Kapitalismus bedeutet Korruption

Thesen der Sozialistischen Alternative zum Korruptionsskandal im Jahr 2000


 

" Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen wird es beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel."

T.J. Cunning zitiert von Karl Marx in Band I von "Das Kapital"

"Die Wege des Kapitals sind nicht im mindesten wunderbar. Mit der gleichen naturgesetzlichen Notwendigkeit, die das Wasser den Berg hinuntertreibt, strömt das Kapital an den Ort des höchsten Profits. Ihm moralische Skrupel welcher Art immer ansinnen, hieße, dem Wasser zumuten, bergan zu laufen oder dem Felde zuzufliegen. Aber die Wege des Kapitals sind dennoch wunderbar. Nicht in ihrer Gesetzmäßigkeit, sondern in ihrer unerschöpflichen Mannigfaltigkeit…Verborgene Maulwurfsgänge, geheime, geheimste Kanäle, ein weitverzweigtes unterirdisches Röhrennetz, leiten in politische Parteien, die zu einem guten Teil geradezu die Ausgehaltenen gewisser kapitalistischer Interessentengruppen sind, leiten in allerhand scheinbar unabhängige, oft sich höchst idealistisch gebärdenden Vereinsorganisationen, leiten vor allem auch in die Presse. Oft auf Schleichwegen, die selbst den Stipendiaten unbekannt sind."

Karl Liebknecht in seiner Rede zum Krupp-Skandal im Reichstag am 21.4.1913

1. Nachdem die Ära Kohl im September 1998 von der deutschen Arbeiterklasse durch die Bundestagswahlen beendet wurde, führt der CDU-Spendenskandal nun zum Sturz des Denkmals Kohl – und mit ihm erleidet nicht nur die CDU, sondern das ganze System der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie zurecht eine bedeutende und nachhaltige Einbuße an Vertrauen.

Für die CDU weitet sich der Skandal zu einer Existenzkrise aus. Die Zukunft der Partei ist vor dem Hintergrund täglich neu an die Öffentlichkeit kommender krimineller Aktivitäten (die immer noch nur die Spitze des Eisbergs repräsentieren) alles andere als sicher.

2. Die dadurch bedingte Stärkung von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vollzieht sich nur auf der Wahlebene und wird einen kurzfristigen Charakter tragen. So wie die Krise der Schröder/Fischer-Regierung im Jahr 1999 die tieferliegende Krise der traditionellen bürgerlichen Parteien überschattet hat, so überschattet nun der CDU-Spendenskandal die tieferliegende Krise der Sozialdemokratie und der grünen Partei. Letztlich werden aber die elementaren Krisenprozesse in allen Parteien zum Tragen kommen und eine grundlegende Veränderung der politischen Landschaft der "Berliner Republik" auf die Tagesordnung setzen.

3. Der Skandal hat weitgehende Auswirkungen auf das Massenbewußtsein. Die Entfremdung von den bürgerlichen Institutionen und dem politischen System, die in den 90er Jahren breite Kreise der Arbeiterklasse und der Jugend erfasst hat, vertieft sich und trifft neue Teile der Bevölkerung.

4. Doch Korruption ist nicht die Folge falsch funktionierender Institutionen oder eines falschen politischen Systems. Korruption gehört zum Kapitalismus, wie die Lohnarbeit und das Profitstreben.

Politik ist konzentrierte Ökonomie – wie Lenin einmal etwas zugespitzt formulierte.

Hintergrund des aktuellen Korruptionsskandals ist der Charakter der kapitalistischen Gesellschaft. In der kapitalistischen Wirtschaft gibt es keine Demokratie. Die Besitzer großer Aktienanteile und Kapitaleigner haben das alleinige Sagen. Die Einflussnahme durch gewerkschaftliche Mitbestimmung oder das parlamentarische System ist gering und nicht maßgeblich für getroffene Entscheidungen. Die Klasse der Kapitalisten ist aber auch politisch herrschende Klasse durch ihre entscheidende Einflussnahme auf den und Kontrolle des Staatsapparates und der bürgerlichen Parteien, um politische Entscheidungen und Gesetzgebungen zu erwirken, die ihr Privateigentum an Produktionsmitteln und ihre Macht verteidigen. Bestechung und Korruption, ob nun legal durch offizielle Parteispenden und überhöhte Abgeordnetendiäten und Aufsichtsratstantiemen oder illegal wie beim CDU-Skandal, sind ein wichtiger Faktor für die Schaffung einer Übereinstimmung von Interessen der Kapitalisten, der Staatsspitzen und der Führungen der bürgerlichen Parteien.

Die Spitzen des Staatsapparates (Verwaltung, Justiz, Armee, sonstige bewaffnete Einheiten) sind über vielfältige Fäden miteinander und mit der Kapitalistenklasse verbunden: durch gemeinsame Herkunft und Ausbildung, sorgfältige Auswahl der wichtigen Funktionsträger, soziale Gemeinsamkeiten. Bei den Parteien ist die Sache etwas komplizierter, insbesondere bei größeren Massenparteien. Hier setzt die "Landschaftspflege" in Form von Spenden ein, oder auch politische und finanzielle Einflussnahme zur gezielten Förderung bestimmter Karrieren.

Gleichzeitig ist Korruption ein Mittel im Konkurrenzkampf der unterschiedlichen Konzerne um Zuschläge für öffentliche Aufträge, staatliche Subventionen oder Zuschläge für den Kauf von zu privatisierenden Betriebe zu bekommen.

Die illegale Parteienfinanzierung ist aus folgenden Gründen eine Notwendigkeit aus Sicht der Kapitalisten: nachdem die deutschen Kapitalisten Hitler massiv finanziell unterstützt und ihn an die Macht gebracht hatten, hat die Arbeiterbewegung nach Ende der faschistischen Diktatur Reformen durchgesetzt, die eine ähnliche Parteienfinanzierung in Zukunft verhindern sollten. Dazu gehörte die Begrenzung steuerlicher Absetzbarkeit von Parteispenden und die Offenlegungspflicht von Parteispenden ab 20.000 DM. Um diese zu umgehen und als Spender Anonymität zu bewahren (damit die direkte Verbindung von Parteispenden und politischen Entscheidungen nicht offensichtlich wird) wurde zum Beispiel die Staatsbürgerliche Vereinigung gegründet, die als Geldwaschanlage für Parteispenden diente bzw. werden Parteispenden nicht angegeben.

4. Jedoch ist Korruption nicht ein rein kapitalistisches Phänomen, sondern ein Phänomen von Gesellschaften, die auf sozialer und politischer Ungleichheit beruhen und von bestimmten Klassen oder Eliten beherrscht werden. So gab es Korruption auch in früheren Klassengesellschaften. Und es gab sie bekanntlich auch in den nichtkapitalistischen, stalinistischen Systemen. Dort nicht ausgehend von der ökonomischen, auf Privateigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Macht, sondern ausgehend vom diktatorischen Regime der stalinistischen Bürokratie, das den Staatsapparat beherrschte und über diesen politischen Hebel ihre privilegierte Stellung halten und ausbauen konnte.

5. Die Existenz bürgerlich-parlamentarischer Demokratien ändert weder an den wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnissen noch an der Rolle der Korruption etwas.

Solche "Demokratien" bieten der Arbeiterklasse und anderen unterdrückten Schichten eine gewisse Einflussnahme – mehr jedoch durch demokratische Rechte, wie Organisations-, Demonstrations- und Streikrecht als durch die direkte Einflussnahme in Parlamenten, die sehr begrenzt ist.

Vor allem aber bleibt der Kern des Staatsapparates vom Parlamentarismus unberührt. Wie Friedrich Engels sagte besteht der Kern des Staatsapparates aus den "Haufen bewaffneter Formationen", dem Justiz-, Militär-, Polizei- und Beamtenapparat. Abgeordnete und Minister kommen und gehen, der Apparat bleibt. Er ist weder wähl- noch abwählbar. Eine Kontrolle des Staatsapparates und der Kapitalistenklasse durch das Häuflein Abgeordneter ist kaum möglich. Es ist de facto umgekehrt: seitens des Staatsapparats und der Kapitalistenklasse das Häufchen Abgeordneter in Schach zu halten, ist ein Leichtes, besonders wenn es sich um solche handelt, die den Rahmen des Systems akzeptieren.

6. Unter anderem deshalb kann der Kapitalismus nicht auf parlamentarischem Weg abgeschafft werden. Auch eine starke revolutionär-sozialistische Fraktion in einem Parlament würde die Macht- und Kontrollverhältnisse nicht durch ihre parlamentarische Arbeit ändern. Sie könnte allerdings dafür Sorge tragen, dass alle gesetzlich möglichen Kontrollmechanismen tatsächlich ausgenutzt würden, was zur Zeit nicht einmal der Fall ist. Deswegen zielt parlamentarische Arbeit von MarxistInnen vor allem darauf, diese Machtverhältnisse offenzulegen und das Parlament als Tribüne für Aufklärung und revolutionäre Propaganda zu nutzen.

7. Sozialisten können ihre Position im Parlament nutzen, um Skandale an das Licht der Öffentlichkeit zu bringen, öffentlich gegen die herrschende Klasse Anklage zu erheben und alle bürgerlich-demokratischen Mittel zur Bloßstellung und Verurteilung von in Skandale verwickelten Politikern und ihrer Geldgeber auszuschöpfen. Bis zu einem gewissen Grad spielten die französischen Sozialisten um Jean Jaurès Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in der Dreyfuss-Affäre diese Rolle. Rosa Luxemburg bescheinigt der Gruppe Jaurès, dass sie in der Dreyfuss-Affäre eine "der größten Schlachten des Jahrhunderts" geschlagen habe.

Karl Liebknecht nutzte am Vorabend des Ersten Weltkriegs Reichstagssitzungen, um einen Bestechungsskandal, in den Krupp-Manager, Heeresoffiziere und Regierungsbeamte verwickelt waren, zu enthüllen. Der Krupp-Skandal war ein Weltskandal. Die Bewegung gegen den Krieg erhielt damit international Auftrieb. Alle Versuche von Regierung, Industrie und Presse den Krupp-Skandal zu vertuschen scheiterten an Liebknechts hartnäckigem Kampf, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Liebknecht schaffte es, dass ein Prozess stattfand und leitende Angestellte von Krupp verurteilt wurden. Aufgrund des Drucks durch die Stimmung in der Bevölkerung sah sich der Reichstag sogar gezwungen eine Kommission zur Untersuchung einer Verstaatlichung der Rüstungsindustrie einzusetzen. Liebknecht war spätestens mit dem Krupp-Skandal der gehassteste Gegner der deutschen Kapitalisten. Ein Krupp-Direktor forderte ihn sogar zum Duell auf.

8. Die Beziehung Krupp-Staatsapparat läuft bis heute, auch Schreiber ist ein Kofferträger des Krupp-Thyssen-Konzerns. Dies zeigt nochmal die Kontinuität solcher Verbindungen, nicht nur über alle Regierungen hinweg, sondern auch durch alle verschiedenen Regierungsformen hindurch: Kaiserreich, Weimarer Republik, Faschismus, BRD.

9. Auch die Medien erfüllen nicht die Funktion einer ernstzunehmenden Kontrollinstanz, als die sie sich selber gerne darstellen. Sie sind selbst kapitalistisch beherrscht bzw. Zielpunkte kapitalistischer Einflussnahme. Dies schließt aber nicht aus, daß die Medien eine gewisse Warnfunktion vor unerwünschten Tendenzen haben, z.B. bei zu großer Einflussnahme einzelner kapitalistischer Interessengruppen oder bei zu großem Unmut in der Bevölkerung. Denn die bürgerliche Klasse ist interessiert a) am Gesamterhalt des Systems und b) daran, daß der Staat nicht zur alleinigen Beute einer kleinen Kapitalfraktion wird. Der Staat soll die Gesamtinteressen der Kapitalisten als gesellschaftlich herrschender Klasse vertreten und übernimmt auch die Funktion eines Schiedsrichters zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen bzw. der Arbeiterklasse und bestimmten Teilen der Kapitalistenklasse. Er ist der "ideelle Gesamtkapitalist".

10. Alle bürgerlichen Parteien oder solche, die im Sinne des Systems funktionieren, erhalten finanzielle Zuwendungen durch Banken, Versicherungen und Konzerne. Die Finanzquellen einer politischen Organisation oder Partei sind daher auch ein wichtiges Indiz für ihre politischen Inhalte und ihre Haltung zur kapitalistischen Ordnung.

Je näher eine Partei dem Kapital steht, umso mehr Zuwendungen erhält sie. Wobei sich die Sache noch steigert, wenn sie an der Regierung ist und somit politische Entscheidungen fällt.

In der BRD profitieren meist alle etablierten Parteien mehr oder weniger, da sie im föderalen System alle in irgendeiner Form an Entscheidungen auf Bundes-, Länder- oder kommunaler Ebene beteiligt sind.

11. Manchmal sind es auch unterschiedliche Kapitalfraktionen, die je nach Interessenlage die Mittel verstärkt der einen oder anderen Partei zukommen lassen. So hat z.B. Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre die SPD massive Unterstützung von jenen Teilen des Kapitals erhalten (damals u.a. auch von Krupp), um u.a. eine "Normalisierung" der Beziehungen zu Osteuropa zu erreichen und endlich verstärkte Handelsbeziehungen einfädeln zu können. Modernisierung nach innen und eine besssere Ausbildung von Fachkräften waren ebenfalls für den internationalen Wettbewerb nötig. Dem entsprach damals eher das bildungspolitische Programm der SPD (Stichworte: Bildungoffensive, Geamtschule, Arbeiterkinder an die Uni). Die konservativeren Kräfte des Kapitals blieben der CDU verhaftet. Beim versuchten Sturz der Regierung Brandt per Mißtrauensvotum im Jahr 1972 kam es daher zu Abgeordneten-Käufen auf beiden Seiten: die Union zog Überläufer aus dem Regierungslager herüber (z.B. Vertriebenenfunktionäre), die SPD kaufte Abgeordnete "zurück" (Wienand-Affäre).

12. Der Flick-Skandal war der größte Korruptionsskandal der Bonner Republik. Der Milliardär Flick erreichte über Schmiergeldzahlungen in den 70er und Anfang der 80er Jahre in Höhe von 26 Millionen Mark an CDU/CSU, FDP und SPD und an Abgeordnete und Regierungsmitglieder aus deren Reihen u.a., dass die sozialliberale Koalition ihm die aus dem Verkauf von Daimler-Aktien im Wert von 1,9 Milliarden Mark fälligen Steuern in Höhe von 840 Millionen Mark erließ. Über Zuwendungen an den damaligen Wirtschaftsminister Lambsdorff wurde außerdem direkte Einflussnahme ausgeübt, über einen Koalitionswechsel der FDP den Regierungswechsel zu Kohl herbeizuführen. Weil alle Parteien außer den Grünen von dem Skandal betroffen waren, gab es ein Große Koalition bei der Vertuschung der Affäre und zwei Versuche über eine Amnestie Schmierer und Geschmierte straffrei davonkommen zu lassen. Am Ende musste Lambsdorff als Wirtschaftsminister und Rainer Barzel (CDU) als Bundestagspräsident zurücktreten. In einem Prozess der sich von 1985 bis 1993 hinzog, machte Kohl eine Falschaussage. Otto Schily als damaliger Berichterstatter der Grünen im Flick-Untersuchungsausschuß erstattete Strafanzeige gegen Kohl. Das Verfahren wurde aber eingestellt. Kohls Image sollte zu diesem Zeitpunkt nicht beschädigt werden.

Ex-SPD-Finanzminister Friderichs, Graf Lambsdorff und CDU-Schatzmeister Leisler Kiep wurden wegen Steuerhinterziehung zu Geldstrafen verurteilt, aber vom Vorwurf der Korruption freigesprochen. Die Flick-Affäre diente den Herrschenden als Vorwand dafür im Parteiengesetz höhere staatliche Zuschüße an die Parteien festzuschreiben. Der illegalen Parteienfinanzierung sollte, so die offizielle Behauptung der Parteien, dadurch ein Riegel vorgeschoben werden. Das Ergebnis ist jetzt bekannt.

13. Die Flick-Affäre war nur der Anfang der Skandalisierung der BRD. Einen weiteren Höhepunkt erreichte sie mit dem Pfeiffer/Barschel-Skandal 1987. Der Unternehmer Ballhaus bezahlte die Bespitzelung von SPD-Spitzenkandidat Engholm, der Springer-Verlag stellte den dubiosen "Medienreferenten" Pfeiffer ab, und führenden CDU-Politikern um den schleswigholsteinischen CDU-Ministerpräsident Barschel waren alle Mittel recht, um an der Macht zu bleiben. Am Ende wird Barschel tot in der Badewanne eines Hotelzimmers gefunden.

14. Regierungswechsel oder sonstige Umbruchphasen sind häufig genau die Perioden, in denen Skandale hochkochen. Die Bildung neuer Seilschaften, das Knüpfen neuer Verbindungen und das Abräumen der alten Beziehungen stehen dann häufig an. Wenn der alte Filz besonders dicht und langlebig war, ist es dann manchmal nötig, den Deckel über dem konspirativen Sumpf etwas zu lüften und einzelne Figuren bloßzustellen. Diese Vorgänge sind nicht immer ganz unter Kontrolle und können gelegentlich nach hinten losgehen. Beispiel: Am Ende der Ära Nixon wollte das Kapital in den USA den Wechsel, der Watergate-Skandal wurde aufgedeckt und Nixon amtsenthoben. Bill Clintons Lewinsky-Affäre war eher ein Betriebsunfall. Diesen, im Sinne des Kapitals, erfolgreichen Präsidenten wollte man nicht absägen, und so kam es trotz politischer Machtinteressen der Republikaner nicht zu einer Amtsenthebung.

15. Dieser Zusammenhang scheint auch bei der Aufdeckung des aktuellen CDU-Spendenskandals zu bestehen. 16 Jahre Kohlregierung haben einen Filz hinterlassen, der scheinbar selbst aus Sicht der Kapitalistenklasse zu weit geht. Nach einem Jahr haben sich SPD und Bündnis 90/Die Grünen als eine für das Kapital verlässliche Regierungskoalition bewiesen. Entscheidende Teile der Kapitalistenklasse sehen in dieser Regierung für die kommende Periode die besseren Sachverwalter für ihre Interessen.

Außerdem kann eine Beschädigung der CDU auch zu einem Rechtsruck im politischen System genutzt werden.

16. Die "Aufräumarbeiten" im Zusammenhang mit der Aufdeckung von Skandalen könen dabei umso öffentlicher vonstatten gehen, je weniger das kapitalistische System bedroht oder zumindest eine starke sozialistische Kraft vorhanden ist, die solche Affären nutzen könnte.

Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus beherrscht der Kapitalismus wieder den gesamten Globus, eine Systemalternative (war sie in Form der stalinistischen Staaten auch noch so bürokratisch-diktatorisch deformiert) existiert nicht mehr. Das Kapital fühlt sich also weniger bedroht, kann Krisen besser "aussitzen" und innerkapitalistische Konflikte (sowohl zwischen verschiedenen imperialistischen Staaten als auch unterschiedlichen Kapitalfraktionen) werden offener ausgetragen, da ein einheitliches Vorgehen gegenüber den planwirtschaftlich organisierten Staaten bzw. gegenüber starken stalinistischen oder sozialdemokratischen Arbeiterparteien weniger nötig ist.

Beispiel: In den USA gab und gibt es ein stärkeres Kontrollsystem, denn man war und ist im Parlament und politischen System unter sich, mit zwei bürgerlichen und ohne Arbeiter-Partei.

In Italien gab es in den 80er Jahren die Aufdeckung einer Geheimloge mit dem Namen P2, eine Verbindung von Christdemokraten, Bänkern, Industriekapitänen, oberen Militärkreisen, Mafiakreisen und Vatikan, die einträchtig zusammenwirkten und Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre in der damals vorrevolutionären Situation Italiens sogar einen Militärputsch geplant hatten. Dies führte jedoch bei weitem nicht zu solch gründlichen Aufäumarbeiten wie Anfang der 90er Jahre die Aktion "saubere Hände", in der zahlreiche mafiöse Verbindungen aufgedeckt und die Christdemokratische wie Sozialistische Partei praktisch zerschlagen wurden und es zu einer Neuformierung der italienischen Parteienlandschaft kam. Zum einen entstand das "linke" Olivenbaumbündnis, dass zeitweise die Regierung stellte, zum anderen entwickelte sich eine neue rechte Parteienkonstellation mit den Kräften um Medienmogul Berlusconi herum, der rechten "Lega Nord" und der neofaschistischen "Alleanza Nazional". Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus und der kompletten Einbindung der ehemaligen Kommunistischen Partei wurde diese Aktion ohne größere Gefahren für das Gesamtsystem möglich.

17. Die zeitweilige Schwäche der internationalen Arbeiterbewegung ist auch der politische Hintergrund für die Aufdeckung von Skandalen und die Krise konservativer Parteien in einer Reihe von Ländern, mit langjährigen Regierungszeiten, Filz und Seilschaften, die selbst für die Herrschenden zu teuer und in ihrer Skandalträchtigkeit zu risikoreich wurden. Derzeit fühlen sich die Herrschenden nicht mehr von links bedroht sondern haben durch die vollständige Verbürgerlichung ehemaliger Arbeiterparteien mit bürgerlichen Führungen Alternativen: In Japan regierten sie zeitweilig durch und über die Sozialistische Partei, die flugs ihr Programm und das "sozialistisch" im Namen abwarfen, in Italien ist die früher aufgrund ihrer Massenbasis in der Arbeiterklasse unberechenbare Kommunistische Partei zur vertrauenswürdigen PDS geworden, in Britannien ist Blairs New Labour zu einer von Grund auf zuverlässigen bürgerlichen Partei mutiert. Und auch in Deutschland können sich die Herrschenden auf Schröder samt seinen handzahmen Grünen vollauf verlassen. Das schafft Luft für gewisse Aufräumarbeiten, solange sie nicht allzu gründlich sind.

18. Korruptionsfälle und politische Skandale können unter bestimmten Umständen die ganze Gesellschaft in Aufruhr bringen und sogar zu vorrevolutionären und revolutionären Situationen führen. Als reaktionäre Kräfte in Frankreich 1894 den jüdischen Offizier Dreyfuss zum Opfer ihrer antisemitischen Hetze machten, ihn beschuldigten militärische Geheimnisse an Deutschland verraten zu haben und zu lebenslänglicher Verbannung verurteilten entwickelte sich in Frankreich eine politische Krise, die das Land an den Rand des Bürgerkrieges brachte.

Als im italienische Koprruptionssumpf 1993 neue Skandale an die Öffentlichkeit kamen, gab es eine solche Wut in der Bevölkerung, dass Tausende spontan auf die Straße gingen. Hätte es eine Partei gegeben, die diese Wut zielgerichet gegen die Regierung und gegen das ganze korrupte kapitalistische System organisiert hätte, hätte eine revolutionäre Situation entstehen können.

In Belgien brachte 1996 der Justizskandal und die Absetzung des populären Untersuchungsrrichters im Falle des Kindervergewaltigers und -mörders Dutroux das Fass zum überlaufen. Es kam zu einer sozialen Explosion in Form von spontanen Schüler-, Studenten und betrieblichen Streiks, dem "Weißen Marsch" von 300.000 Menschen und einem Generalstreik. Das Land war de facto für einige Tage unregierbar.

19. Der ökonomische Hintergrund für die Zunahme an Korruption und Skandalen ist die Krise des internationalen Kapitalismus.

Die internationale Konkurrenz wird mit noch härteren Bandagen geführt, was zu verschärftem Kampf um staatliche Aufträge und Milliarden-Subventionen, verstärktem Druck auf die Politik für jeweils "günstige" Standortbedingungen (niedrige Steuern, Sozialabgaben, möglichst wenig Schutzrechte, etc.) führt. Das Kapital braucht den Wechsel zu einer härteren Gangart gegenüber der Arbeiterklasse. Große bürgerliche Parteien sind darüber als erste in die Krise geraten, da ihre Verbindungen zu einer breiteren Massenbasis ohnehin prekär sind. Der Anhang der ehemaligen Arbeiterparteien ist zwar auch geschrumpft, aber noch sind sie ein brauchbareres Instrument, besonders solange sie noch relativ frisch an der Regierung sind und noch von der Nostalgie vergangener Errungenschaften zehren können.

20. Mangels ausreichend anderer profitabler Verwertungsmöglichkeiten wurden und werden überall öffentliche Betriebe und Einrichtungen privatisiert, darunter so große Bereiche wie Telekommunikation. Beim öffentlichen Ausverkauf, der durch politische Entscheidungsträger vorbereitet und durchgeführt wird, sind engste Verbindungen mit diesen notwendig, winken extrem hohe Profite. Im Zusammenhang mit Privatisierungen gab es überall Schmiergeldaffären und Korruptionsskandale. In Deutschland kam noch die besondere Situation des Ausverkaufs der verstaatlichten Wirtschaft in Ostdeutschland hinzu.

Die internationale Spekulationsblase an den Finanzmärkten mit ihrer wundersamen Geldvermehrung bezieht immer breitere Schichten des kapitalistischen Führungs- und Verwaltungspersonals ein, zieht sie in den Sog von Provisionen, internationaler Geldwäsche und Finanztransfers, Steuerhinterziehung, Insidertipps und schnellem Profit.

21. Ziel der Kapitalistenklasse ist es, eine härtere Gangart gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen, das heisst Sozialabbau, Dereglierung, Flexibilisierung, den Abbau von Arbeitnehmerrechten zu beschleunigen und zu verstärken, aber auch staatliche Aufrüstung und rassistische Spaltung voranzutreiben.

Auch wenn SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und die Gewerkschaftsführung zur Zeit die CDU versuchen zu stützen, um eine weitere Destabilisierung zu verhindern (und wahrscheinlich darauf verzichtet werden wird die CDU in den finanziellen Bankrott zu treiben, was rechtlich durchaus möglich wäre) werden sich aus der Krise der konservativen Parteien über kurz oder lang politische Umgruppierungen im bürgerlichen Lager ergeben. Es ist auf Dauer eine zu schmale politische Basis für das Kapital, nur durch die ehemaligen Arbeiterparteien regieren zu können.

Die Neuformationen vorherzusagen, ist ziemlich spekulativ. Aber es ist unwahrscheinlich, daß die Rekonstruktion großer bürgerlicher Parteien mit einer gewissen Basis in rückständigeren Teilen der Arbeiterklasse noch einmal gelingen kann, da deren Existenz mit der "Sozialpartnerschaft" des Nachkriegsaufschwungs verknüpft ist, die es nicht mehr geben kann und diese auch zuviel Rücksicht auf ihre Basis nehmen müssten.

Der Aufstieg einer deutschen Haider-Partei ist eine mögliche Perspektive, wenn sich denn ein "deutscher Haider" findet. Es ist auch möglich, dass es zu einem Bruch von CDU und CSU kommt und Stoiber zur Gallionsfigur einer bundesweiten nationalistischen Partei wird, die sich in Folge einer kommenden Rezession und EURO-Krise gegen die Vollendung der Europäischen Währungsunion (EWU) einsetzen könnte. Auch eine Aufspaltung der bürgerlichen Kräfte auf mehrere Parteien ist möglich, über das ganze Spektrum von rechtsaußen bis liberal, zum Abgrasen möglichst unterschiedlicher Wählerschichten.

22. Die DGB-Spitze und die Führungen der Einzelgewerkschaften haben bisher über den aktuellen Korruptionsskandal kein Wort verloren. Dahinter steckt, dass sie kein Interesse an einer Destabilisierung der bürgerlichen Parteien haben. Die IG Metall lässt in ihrer Mitgliederzeitung vom Februar den Ressortleiter Innenpolitik der "Süddeutschen Zeitung" auf die MetallerInnen mit folgendem Kommentar los: "Man muß kein Anhänger der CDU sein, um jetzt Angst um sie zu haben. Die Partei, die die Bundesrepublik gestaltet und geprägt hat, ist in verzweifelter Lage". Kein Wort mehr davon, daß die CDU die Partei des Großkapitals ist, mit der es jahrzehntelang gegen die Arbeiterklasse und ihre Gewerkschaften regiert hat. Die Gewerkschaftsführer haben wohl auch Angst, daß der Korruptionssumpf ihrer Tarifpolitik der Bescheidenheit, festgeschrieben in der Vereinbarung im "Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit" einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Nachdem klar ist, dass Unternehmer Millionen bzw. über die Jahre Milliarden übrig hatten, um Politiker zu kaufen, wo nehmen sie dann noch die Glaubwürdigkeit für die Behauptung her, dass kein Geld für Lohnerhöhungen da ist. Wenn alle früheren Verhandlungsführer bei den Lohnrunden im öffentlichen Dienst (Kanther, Schleußer, Ruschmeier) durch Steuerhinterziehungen bzw. Beihilfe zur Steuerhinterziehung und andere Tricks die öffentlichen Kassen geplündert haben und sie ihre Machenschaften nach ihrem Abgang noch mit monatlichen satten Pensionszahlungen belohnt bekommen, warum sollten die Arbeiter, Angestellten und Beamten bei Bund, Länder und Gemeinden dem Argument der leeren Kassen folgend weiter Lohnverzicht üben?

23. Wir fordern von den Gewerkschaften, dass sie einen Kampf für eine lückenlose Aufklärung führen. Über organisierten Druck in den Betrieben, durch Betriebsräte und Vertrauensleutekörper, müssen die Konzerne, Banken und Versicherungen gezwungen werden, alle Zahlungen an Parteien, Politiker und staatliche Institutionen offenzulegen. Die Gewerkschaften müssen einen radikalen Kurswechsel vollziehen: Schluss mit der Zusammenarbeit mit Konzernherren, Regierungen und etablierten Parteien, stattdessen ein offensiver Kampf gegen die Unternehmer und ihre Regierungen. Die kommende Tarifrunde muss dazu der Startschuss sein. Um das Abheben von Gewerkschaftsfunktionären von der Basis zu verhindern, müssen ihre Gehälter auf einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn begrenzt werden. Die neu formierte Gewerkschaftslinke sollte eine Rolle dabei spielen, die Sprachlosigkeit der Gewerkschaften in Sachen Korruptionsskandal in diesem Sinne zu beenden.

24. Der CDU-Korruptionsskandal ist eine Warnung an die Arbeiterklasse. Er drückt aus, welches Verhältnis die Herrschenden zu Recht und Gesetz haben: dient es zum Schutze des Privateigentums und ihrer Profite, zur Kriminalisierung von Demonstrationen, zur Abschiebung von ImmigrantInnen, so pochen Wirtschaftsbosse und Regierungspolitiker auf die strikte Einhaltung von Recht und Ordnung. Geht es aber um "Landschaftspflege", wird die Einhaltung von Recht und Ordnung nicht mehr so eng gesehen. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass in Zukunft, wie schon oft in der Geschichte der Herrschaft des Kapitals geschehen, demokratische Rechte wie Streikrecht, Demonstrationsfreiheit etc. mit Füßen getreten und abgeschafft werden, wenn die Ausübung dieser Rechte durch die Arbeiterklasse der Kapitalherrschaft gefährlich wird.

Kein Vertrauen in bürgerliche Politiker und Wirtschaftsbosse muss die Schlussfolgerung aus dem Korruptionsskandal für ArbeiterInnen, Arbeitslose und Jugendliche sein!

25. Der CDU-Skandal hat große Auswirkungen auf das Bewusstsein der Massen. Rückständige Teile der Arbeiterklasse und der Mittelschichten sind schockiert und blicken ungläubig auf die täglichen Meldungen über die kriminellen Aktivitäten von Kohl und Konsorten. Bei Hunderttausenden und Millionen ist ihr grundlegendes Vertrauen in die parlamentarische Demokratie erschüttert und ein Entfremdungsprozess setzt bei neuen Schichten ein, die davon bisher noch nicht betroffen waren. Deshalb vollzieht sich zur Zeit auch keine CDU-Krise, sondern eine Krise des gesamten politischen Systems der Bundesrepublik.

Die Schichten der Arbeiterklasse und der Jugend, die ihr grundlegendes Vertrauen in die bürgerlichen Institutionen und den Parlamentarismus schon in den 90er Jahren verloren haben, fühlen sich bestätigt und die Entfremdung vertieft sich. In einer Meinungsumfrage haben 44 Prozent ausgesagt, sie wüssten nicht, ob sie an einer Bundestagswahl teilnehmen würden.

Damit vertieft sich potenziell aber auch die Offenheit für eine politische Alternative.

Aufgrund der rechten Politik der PDS-Führung (laut Spiegel hat der PDS-Vorsitzende Bisky "die Bemühungen zur Aufklärung der Affäre als Beweis für die Stärke des parlamentarischen Systems bezeichnet") und der Gewerkschaftsführung, verwandelt sich die Wut über die Korruption zur Zeit nicht in eine Aktivität der Massen. Aufgrund des Fehlens einer starken linken Alternative (abgesehen vom Rechtskurs und der rein parlamentarischen Orientierung der PDS-Führung ist diese in den Augen vieler ArbeiterInnen mit der Korruption des Stalinismus nach wie vor verbunden) besteht die Gefahr, dass eine rechts-nationalistische Partei entsteht und die Faschisten weiteren Zulauf erhalten.

Mit einer offensiven, systemkritischen Politik können aber auch sozialistische Kräfte aus dieser Situation profitieren.

26. Die Antwort auf den Korruptionsskandal, auf die arbeitnehmerfeindliche Politik aller von SPD, Bündnis 90/ Die Grünen, CDU, CSU und FDP, auf die wachsende Bedrohung durch die Faschisten und auf den bürgerlichen Anpassungskurs der PDS-Führung muss der Ruf nach dem Aufbau einer neuen Arbeiterpartei sein.

Eine solche Partei könnte unter Beweis stellen, dass sie in den besten Traditionen der sozialistischen Arbeiterbewegung steht und den Korrumpierungsversuchen des Kapitals widersteht. Jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit von Funktionären, die Begrenzung von Funktionärsgehältern und Abgeordnetendiäten auf einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn, wie bei der SAV und den Mitgliedsparteien im Komitee für eine Arbeiterinternationale praktiziert, sind wirksame Kontrollmechanismen, um eine Entfremdung der Führung von der Basis zu verhindern.

27. Die Sozialistische Alternative fordert:

– sofortige Streichung aller Diäten und Pensionszahlungen an Politiker wie Kohl und Kanther, die in die Betrugs- und Spendenaffären verwickelt sind

– Bildung einer unabhängigen Untersuchungskommission, die öffentlich tagt, aus gewählten VertreterInnen der arbeitenden Bevölkerung zur Untersuchung der Parteifinanzen

– Offenlegung der Geschäftsbücher der Banken und Konzerne und Untersuchung der Finanzen durch gewählte VertreterInnen aus Betrieb und Gewerkschaft

– Keine Steuergelder zur Finanzierung der Parteien, keine steuerliche Begünstigung von Parteispenden

– Schluss mit der Diktatur des Kapitals – Überführung der Banken und Konzerne in Gemeineigentum bei demokratischer Kontrolle und Verwaltung durch die arbeitende Bevölkerung