Leben, Kampf und Ideen eines Revolutionärs
I. Wie ein Verbrecher produziert wird
Am 29. Mai 1925 wurde in Omaha im US-Bundesstaat Nebraska ein Kind geboren. Es war das vierte Kind von Earl und Louise Little. Ursprünglich hätte das Kind nach seinem Großvater John heißen sollen, aber als der Großvater hörte, daß das Kind fast weiß sei, verbat er sich das. So bekam das Kind den Namen Malcolm.
Malcolms Eltern
Seine Mutter war auf der Karibikinsel Grenada aufgewachsen. Ihren schottischen Vater hat sie nie kennengelernt, ihre Mutter starb, als sie sehr jung war. Von ihrer Großmutter und Tante wurde sie sehr autoritär bis brutal „erzogen“. Als sie älter wurde, wurde sie von zuhause weggeschickt. Sie fühlte sich leer, einsam und nutzlos.
Schließlich wanderte sie nach Montreal in Kanada aus. Dort lernte sie Earl Little kennen und heiratete ihn bald, am 10. Mai 1919. Daß er schon eine Frau und drei Kinder hatte sitzenlassen, erfuhr sie später. Sie übersiedelten nach Philadelphia und dann nach Omaha. Dort wurde Malcolm geboren. Nach mehreren weiteren Stationen ließen sie sich 1929 in Lansing in der Nähe von Detroit im US-Bundesstaat Michigan nieder.
Die Familie kaufte ein Farmhaus in einer nur von Weißen bewohnten Wohngegend. Earl war immer freundlich zu seinen weißen Nachbarn und schenkte ihnen Gemüse aus seinen Garten. Auch daß er eine sehr hellhäutige Frau geheiratet hatte und seinen hellsten Sohn bevorzugte, paßte schlecht dazu, daß er zugleich ein Aktivist der ersten amerikanischen Schwarzenbewegung -(siehe Kasten nächste Seite) war.
In Omaha war Earl Little Vorsitzender der UNIA-Ortsgruppe gewesen. Malcolm berichtete später, daß die Familie nach einem Angriff des Ku-Klux-Klans auf ihr Haus Omaha verließ.
Die erste amerikanische Schwarzenbewegung
Im Ersten Weltkrieg hatten 400.000 Schwarze für den US-Imperialismus als Soldaten ihr Leben riskiert, viele weitere in der Rüstungsindustrie ihre Knochen hingehalten. Nach dem Krieg sollten sie wieder ihre alte unterwürfige Stellung einnehmen, verschärft durch Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit. Der Ku-Klux-Klan, die in den Jahren nach der Abschaffung der Sklaverei gegründete Terrororganisation weißer Rassisten, versuchte durch Einschüchterung, Brandstiftung und Lynchmord (im ersten Nachkriegsjahr wurden 70 Schwarze gelyncht, darunter zehn Soldaten, elf Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt), den Schwarzen das im Krieg entstandene Selbstbewußtsein wieder auszutreiben. Aber in der durch den Weltkrieg und die russische Oktoberrevolution aufgewühlte politische Stimmung war das nicht mehr möglich. In diesem politischen Klima wuchs die von dem 1916 aus Jamaika eingewanderten Schwarzen Marcus Garvey (1887-1940) gegründete Universal Negro Improvement Association (Allgemeine Vereinigung zur Besserstellung der Neger, UNIA) zu einer Massenbewegung. Garvey propagierte die massenhafte Auswanderung nach Afrika. Aber Afrika wurde von den europäischen Kolonialmächten beherrscht. Daneben propagierte er die „Selbsthilfe“. Die aber bedeutete vor allem, einige wenige Schwarze zu Kapitalisten zu machen. Seine Popularität beruhte nicht auf seinem utopischen „Zurück nach Afrika“ oder seiner Verherrlichung des Kapitalismus (die ihn sogar mit dem Faschismus liebäugeln ließ), sondern auf seiner radikalen Verdammung des weißen Rassismus. Garveys Anhänger „wollten nicht wirklich nach Afrika gehen. Es war der Ausdruck einer mystischen Sehnsucht nach einem Heim, in dem sie frei von der Herrschaft der Weißen wären, in dem sie ihr eigenes Schicksal selbst kontrollieren könnten“, erklärte der russische Revolutionär Leo Trotzki 1939.
Kindheit in Lansing
Aber nicht nur politisch war die Familie mit Rassismus konfrontiert. Nach drei Monaten in ihrem Haus erfuhren sie, daß das Grundstück nur an Angehörige der „kaukasischen Rasse“ (Weiße) verkauft werden dürfe. Vor Gericht wurde diese Vertragsklausel für gültig erklärt. Earl wollte vor das Oberste Gericht von Michigan gehen, da brannte das Haus eines Nachts ab. Nach Earls Meinung wurde das Haus von Weißen angezündet, die Polizei verhaftete stattdessen ihn wegen Verdachts auf Brandstiftung, doch nach einigen Monaten wurde die Anklage fallengelassen. Louise Little „erzog“ ihre wachsende Zahl von Kindern so, wie sie es selbst erlebt hatte. Earl war noch brutaler, sowohl zu den Kindern als auch zu Louise. Hinzu kam, daß Earl die moralischen Ansprüche, die er stellte, selber nicht erfüllte. Eine enge Wohnung für eine Familie mit schließlich sieben Kindern und ständiger Geldmangel machten das Familienleben nicht erträglicher. Lansing hatte in den Zwanzigern durch die beginnende Autoindustrie geboomt. Durch die Depression seit 1929 wurde es schwer getroffen. Earl schlug sich als Bauarbeiter durch. Daneben betätigte er sich als Laienprediger. Er scheint er sich auch als Kleinkrimineller betätigt zu haben, konnte aber nie überführt werden. Am 28. September 1931 abends wurde Earl Little von einem Bus überfahren und starb. Offiziell verunglückte er, als er auf den anfahren Bus aufspringen wollte. Manche hielten es für Selbstmord. Louise war fest überzeugt, daß er von Weißen vor den Bus gestoßen worden war. Der kleine Malcolm übernahm diese Version. Louise war als alleinerziehende Mutter von sieben Kindern überfordert. Malcolm schrieb später, daß sie ihn wegen seiner hellen Hautfarbe, die sie an ihre eigene uneheliche Herkunft erinnert habe, benachteiligt habe. Zumindest verlangte sie von ihm, daß er möglichst viel im Freien spielte, um „nachzudunkeln“. Das Verhältnis zu den meisten seiner Geschwister war gespannt. Die materielle Lage war äußerst schlecht. Louise hatte Anspruch auf Unterstützung, empfand das aber als demütigend. Louise wollte, daß ihre Kinder in der Schule paukten, daß der Kopf raucht. Malcolms Lehrerinnen impften ihm ebenfalls die Angst vor dem Versagen ein und waren fast so hart wie seine Mutter. Auf diese Mischung von Tyrannei und Überforderung reagierte Malcolm durch Verweigerung. Da er durch Stören die Aufmerksamkeit und Zuwendung, die ihm zuhause fehlte, nicht erreichte, rebellierte er nach Kräften gegen die Schule. Als Folge mußte er Oktober 1938 die Schule wechseln. Auch sein häufiges Klauen war vor allem eine Suche nach Aufmerksamkeit. Louise schloß sich einer religiösen Sekte an. Deren Kargheits-Ideale machte aus dem, was die materielle Not den Littles gebot, eine Tugend. Aber sie brachte Anspruch und Wirklichkeit ebensowenig zusammen wie ihr verstorbener Mann – sie wurde schwanger. Mit dieser zusätzlichen materiellen und psychischen (die „Schande“ des unehelichen Kindes) Belastung wurde sie nicht fertig. Die Behörden wußten keine bessere Hilfe für sie, als ihr das Sorgerecht für ihre Kinder zu nehmen, sie (Januar 1939) für verrückt zu erklären und in eine psychiatrische Klinik zu stecken. Im Sommer 1939 kam Malcolm in ein Jugendheim in Mason, 20 Kilometer südlich von Lansing. Er hatte zum ersten Mal ein eigenes Zimmer und zum ersten Mal das Gefühl, angenommen zu sein. Er blühte auf, wurde sogar zum Klassensprecher gewählt. Aber das Glück währte nicht lange. Sein Lehrer erklärte ihm zu seinem Berufswunsch „Anwalt“: „Ein Anwalt -das ist kein realistisches Ziel für einen Nigger. Du mußt an etwas denken, was du sein kannst. Du bist geschickt mit deinen Händen … Warum planst Du nicht eine Zimmermannslehre?“ Nach diesem Vorfall rutschte seine schulische Motivation wieder in den Keller.
Jugend in Boston
Ein einschneidendes Erlebnis für Malcolm war der Besuch bei seiner Halbschwester Ella in Boston. Im 19. Jahrhundert war Boston eines der Zentren der Anti-Sklaverei-Bewegung. Die Schwarzen waren höher geachtet als die irischen EinwandererInnen. Das hatte sich in den folgenden Jahrzehnten wieder geändert, aber Boston war noch wesentlich liberaler als andere Städte. Gemischtrassige Liebespaare gingen Arm in Arm auf der Straße – in Lansing undenkbar. Im Februar 1941 siedelte er nach Boston über. Bei Ella fühlte er sich endlich wieder angenommen. Er gab sich Mühe, sie nicht zu enttäuschen. Aber ihre Zuneigung war mit der altbekannten Mischung aus Rumkommandiererei und Überforderung verbunden. Malcolm reagierte bald wie früher mit Rebellion. Der Bostoner Stadtteil Roxbury, in dem sie wohnten, war geteilt. Oben lebten bessergestellte Schwarze zusammen mit einem irischen und jüdischen Bevölkerungsanteil, unten war das Ghetto der armen Schwarzen. Zum Ärger seiner Schwester trieb sich Malcolm lieber im Ghetto herum, weil er sich dort akzeptiert fühlte. Außerdem fand er das Halbwelt-Milieu unten aufregend. Er begann, Marihuana zu rauchen, zu spielen, sich nach der „neuesten Mode“ zu kleiden. Er wurde ein „Hipster“, eine Karikatur eines Weißen. In einer schmerzhaften Prozedur ließ er sich die Haare entkräuseln, damit sie wie die Haare der Weißen aussehen sollten. Malcolm wurde Schuhputzer im „Roseland State Ballroom“, wo die berühmtesten Bands auftraten, wenn sie in Boston waren. Er lernte schnell. Bald verdiente er mehr Geld damit, seine Schuhputz-Kunden an Prostituierte zu vermitteln, als damit, ihnen die Schuhe zu putzen. Mit Mädchen hatte sich Malcolm immer etwas schwer getan. Er war sehr darauf bedacht, cool zu wirken und nichts von seinem Inneren herauszulassen und hatte ein tiefsitzendes Mißtrauen gegenüber Frauen. Schließlich gelang es ihm aber, sein Outfit als „Hipster“ komplett zu machen und sich eine weiße Freundin zuzulegen. Für seine Freundin Bea (Beatrice Caragulian) war ein schwarzer Freund ebenso „schick“ wie für ihn eine „weiße Freundin, die keine stadtbekannte Hure war“. Liebe spielte bei beiden keine nennenswerte Rolle. Eine Zeitlang arbeitete Malcolm bei der Eisenbahn, danach hatte er noch mehrere Gelegenheitsjobs. Aber er hielt es ebensowenig wie sein Vater länger bei einer Arbeit aus. Er wollte hoch hinaus und hatte zugleich Angst vor dem Scheitern, das in dieser rassistischen Gesellschaft kaum zu vermeiden war. Schlechte Jobs gab es während dem Krieg genug, aber gute für Schwarze immer noch nicht.
Die New Yorker Unterwelt
Nach mehreren Jobs bei Eisenbahnlinien (zuletzt flog er wohl, weil er mit einer weißen Arbeitskollegin angebandelt hatte) wurde er Kellner in einer Bar in Harlem. Dort bekam er intensiveren Kontakt zur New Yorker Unterwelt. Nachdem er diesen Job auch verloren hatte, versuchte er sich endgültig selber als Kleinkrimineller. Zum Einstieg handelte Malcolm mit Marihuana. Das war eine einträgliche Geldquelle und ermöglichte ihm die Finanzierung seines eigenen Drogenkonsums und seiner Spielleidenschaft. Außerdem flüchtete er noch regelmäßig in die Traumwelt der Hollywood-Filme. Allmählich war die Polizei hinter ihm her. Aber er war zu vorsichtig, sich auf frischer Tat ertappen zu lassen. Und die Polizei schien es damals vorzuziehen, bei ihren Ermittlungen selbst kriminelle Methoden zu vermeiden, weil das Verhältnis zwischen Polizei und Bevölkerung sehr angespannt war. Wie schlecht das Verhältnis war, zeigte sich Anfang August 1943: ein Polizist versuchte, eine schwarze Frau wegen „ungebührlichen Benehmens“ festzunehmen, es kam zu einer Schießerei. Eine Stunde später zog eine aufgebrachte Menschenmenge randalierend durch Harlem. Am Tag nach dem Aufruhr sahen einige Straßenzüge von Harlem wie ein Schlachtfeld aus. Im Oktober traten neue Probleme auf: ein Einberufungsbefehl der Armee. Malcolm hatte weder Lust auf den Heldentod noch auf die militärische Unterordnung in einer im Zweiten Weltkrieg noch auf Rassentrennung beruhenden Armee. Malcolm zog eine Show ab, die ihn erst vor den Armeepsychiater und diesen dann zu der Schlußfolgerung brachte, daß Malcolm für den US-Imperialismus nicht brauchbar sei. Nebenher versuchte er, Bea nach Kräften auf der Tasche zu liegen. Ihr Verhältnis wurde auch nicht durch Beas Heirat gestört. Sie war weiterhin der Ansicht, daß Sex mit einem Schwarzen aufregender sei. Daneben hatte er noch andere Freundinnen, hauptsächlich weiße oder hellhäutige schwarze. Aber Sex schien ihn nur zu interessieren, wenn er die Frauen auch finanziell ausbeuten konnte. Er behandelte sie so, wie er es als Kind bei seinen Eltern erlebt hatte -vor allem, wenn sie was mit anderen Männern hatten, wurde er gewalttätig. Gelegentlich hatte er auch homosexuelle Kontakte, teilweise auch beruflich (als „Masseur“ eines Mannes, der altersmäßig hätte sein Vater sein können). Eine andere Tätigkeit war „angesehener“: er brachte reiche Weiße (bedeutende Unternehmer und Politiker) nach Harlem, wo sie in einem Bordell ihren Perversionen nachgingen. Zum ersten Mal vor dem Richter landete er aus einem eher lächerlichen Anlaß. Er verscherbelte im November 1944 bei einem Abstecher bei seiner Halbschwester Ella in Boston den Pelzmantel einer Tante für fünf Dollar. Er bekam drei Monate auf Bewährung. Daneben betätigt er sich als Einbrecher mit mehr oder weniger Erfolg. Einmal hatte er das Pech, daß die Frau, mit deren Brieftasche er sich beschäftigte, nicht nur aufwachte, sondern sich auch noch als Ringerin entpuppte. Von diesem Abenteuer trug er eine lebenslange Narbe am Schienbein davon. Im Dezember 1945 gründete er mit einem Freund, Bea, ihrer Schwester und einer Freundin eine Einbrecherbande. Obwohl sie längst nicht so professionell waren wie Malcolm später behauptete, ging bei den Einbrüchen alles glatt. Nur das Verkaufen der Ware war schwierig. Als Malcolm bei einem Uhrmacher eine gestohlene Uhr reparieren lassen wollte, kam ihm die Polizei auf die Spur. Am 12. Januar 1946 wurde er verhaftet.
Gerichtsprozeß und Knast
Die drei weißen Frauen wurden gegen Kaution wieder freigelassen und durften beim Prozeß, der Ende Februar begann, auf der Anklagebank Platz nehmen. Für die beiden schwarzen Männer wurde eine Kautionssumme von 10.000 Dollar festgesetzt, die sie natürlich nicht auftreiben konnten. Deshalb wurden sie beim Prozeß in einen Käfig im Gerichtssaal gesperrt. Die drei Frauen sagten aus, daß sie zum Mitmachen gezwungen worden seien und in beständiger Angst vor Malcolm gelebt hätten. Der Richter betrachtete als Hauptanklagepunkt nicht die Einbrüche, sondern „Sex mit weißen Frauen“ und verurteilte Malcolm und seinen Freund zu je acht bis zehn Jahren Zwangsarbeit. Bea bekam fünf Jahre, war aber nach sieben Monaten wieder draußen, die beiden anderen Weißen kamen auf Bewährung frei. Malcolm kam in das Charlestown-Gefängnis südwestlich von Boston. Es war um 1800 erbaut worden und so sah es auch aus. Die Zellen waren wenig über zwei Meter lang und hatten weder fließendes Wasser noch Toiletten, dafür umso mehr Ungeziefer. In Charlestown suchte Malcolm erst die Nähe seiner weißen Mithäftlinge, dann beeindruckte ihn der schwarze „Gefängnisguru“ Bembry immer mehr. Zum ersten Mal lernte Malcolm einen Menschen kennen, der durch Reden Aufmerksamkeit und Achtung erweckte. Sie freundeten sich an. Er fragte Bembry nach allem aus und fing an, Bücher zu lesen -von Äsops Fabeln bis „Moby Dick“. Im Januar 1947 wurde er in ein anderes Gefängnis verlegt. Dort erhielt er Post von seinem Bruder, daß er die „natürliche Religion“ für Schwarze entdeckt habe: er und drei Geschwister seien der „Nation des Islam“ (Nation of Islam) beigetreten: Das Jüngste Gericht, der Endkampf zwischen Guten und Bösen, das heißt zwischen Schwarzen und Weißen, stehe bevor. Malcolm wollte aber mit religiöser Erleuchtung in Ruhe gelassen werden.
Beitritt zur „Nation des Islam“
Im März 1948 wurde Malcolm nach Norfolk verlegt, das wegen seines liberalen Strafvollzugs als Paradies galt. Dort besuchte ihn sein Bruder Reginald, um ihn weiter zu agitieren. Er eröffnet ihm, alle Weißen seien Teufel. Malcolm dachte lange darüber nach, ging die Weißen, die er kennengelernt hatte, im Geist durch. Bei Reginalds nächstem Besuch war er aufnahmebereit. Reginald erklärte, daß durch die Sklaverei die Schwarzen ihre kulturellen Wurzeln beraubt worden und deshalb „geistig tot“ seien. Malcolm schrieb einen Brief an den Sektenführer Elijah Muhammed. Als Antwort erhielt er Geld und einen Brief in dem ihm erklärt wurde, daß nicht er, sondern die weiße Gesellschaft kriminell sei. Mit großer Mühe rang sich Malcolm zur „Unterwerfung unter Allah“ durch. Es kostete ihn eine Woche, bevor er es über sich brachte, niederzuknien und um Vergebung zu beten. Am 10. März 1949 trat er der „Nation des Islam“ bei. Karl Marx schrieb 1844: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“ Für Malcolm, den die kapitalistische und rassistische Gesellschaft der USA so tief in die Gosse gestoßen hatte, war die „Unterwerfung unter Allah“ notwendig, um sich der Gesellschaft gegenüber wieder aufrichten zu können. Sie war für ihn eine Krücke mit der er selbständig gehen und Vertrauen zu sich zu gewinnen lernte – bis sie zu einer Fessel wurde. Aber zunächst gab der Islam (oder vielmehr Elijah Muhammads Karikatur des Islam) Malcolm die Kraft, sein Leben völlig umzustellen. Er nahm jetzt die Sonnenbäder, die ihm schon seine Mutter verordnet hatte, um dunkler zu werden, ließ sich den Kopf kahlscheren und las mit noch mehr Eifer als vorher. Er beschäftigte sich mit Geschichte, vor allem mit der Geschichte der Sklaverei, und Philosophie. Was er las, gab er allen weiter, die ihm zuhören wollten. Um seinen Wirkungsradius zu vergrößern, schrieb er Briefe. Er beteiligte sich am Debattierclub des Gefängnisses, um öffentliches Reden zu lernen. Durch diese Tätigkeiten kam er zu der Schlußfolgerung, daß er sein ganzes Leben in einem Gefängnis verbracht habe, und jetzt im Gefängnis durch den Islam befreit wurde. Eine erste Belastungsprobe erlebte seine religiöse Unterwerfung, als Reginald wegen „Sex außerhalb der Ehe“ aus der „Nation des Islam“ ausgeschlossen wurde. Auf Befehl von Elijah Muhammed brach die Familie den Kontakt mit Reginald ab. Der brach zusammen wie seine Mutter Jahre vorher. Die folgenden Jahr verbrachte er teils innerhalb, teils außerhalb von Irrenhäusern.
Die letzten Jahre im Gefängnis
Im März 1950 wurde Malcolm nach Charlestown zurückverlegt. Dort kämpfte er dafür, im Gefängnis dem Koran gemäß leben zu können (nach Mekka gerichtete Zelle, Essen ohne Schweinefleisch etc.), aber nur teilweise mit Erfolg. Einige Köche tauchten sogar extra Malcolms Eßgefäße vor dem Essensausteilen in Schweinefett. Deshalb ernährte er sich zeitweise nur von Brot und Käse. Im Juli 1952, kurz bevor Malcolm entlassen werden sollte, gab es noch einen Zwischenfall: In der Wäscherei, in der er arbeitete, gab es einen Streik, weil die Häftlinge Kleidung für ihre Wärter waschen sollten. Der Konflikt eskalierte, zwei Wärter wurden als Geiseln genommen. Malcolm war nicht daran beteiligt, gemäß Elijah Muhammads Lehre, daß man Autoritäten (einschließlich „weißen Teufeln“) gehorchen muß, wenn ihre Anordnungen nicht direkt seinen Lehren widersprechen. Im August wurde er freigelassen. Aber einige Monate später wäre er beinahe wieder in den Knast gekommen wegen Kriegsdienstverweigerung. 1950 hatte der Koreakrieg angefangen und Muhammad verbot seinen Anhängern den Kriegsdienst. Schließlich wurde er als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Dem in diesem Fall fälligen Ersatzdienst entging er auf gewohnte Art: Der Psychiater attestierte ihm eine „asoziale Persönlichkeit mit paranoiden Tendenzen“. Malcolm ließ sich in Detroit nieder.