An Berliner Schulen brodelt es

Warnstreik von 6.000 LehrerInnen am 5. April


 

Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Von Jahr zu Jahr werden die Probleme an den Berliner Schulen immer unerträglicher. Der Unmut wächst schon seit geraumer Zeit. Aber in den Vorjahren schwang noch die Hoffnung mit, dass der Tiefpunkt längst erreicht sein müsste und dass doch irgendwann eine Entspannung der Lage eintreten könnte. Aber das Gegenteil ist der Fall. Der Krug geht so lange zum Brunnen… Jetzt setzt sich die Stimmung durch: Bald kommt es zum Scherbenhaufen – wenn sich nicht endlich was tut. Darum beteiligten sich am 5. April am GEW-Warnstreik auch doppelt so viele LehrerInnen wie von der Gewerkschaft im Vorfeld erwartet.

von Aron Amm, Elternvertreter der Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule im Prenzlauer Berg

Statt der von der GEW zuvor prognostizierten 3.000 LehrerInnen waren es am ersten April-Dienstag 6.000 Pädagogen, die um Fünf vor Zwölf die Arbeit niederlegten. In einem lebendigen, kämpferischen Zug mit vielen selbstgebastelten Schildern zogen sie von der Friedrichstraße zum Alexanderplatz.

Großartige Beteiligung trotz Einschüchterungsversuchen

Die Zahl von 6.000 am Streik Beteiligten war hervorragend, vor allem der Westteil und generell die Oberstufenzentren waren stark repräsentiert. Mehr als jeder fünfte Lehrer in der Stadt war auf der Straße – 25.000 LehrerInnen sind insgesamt berlinweit beschäftigt. Die KollegInnen ließen sich auch nicht von den Androhungen des SPD/LINKEN-Senats abhalten. SPD-Bildungssenator Jürgen Zöllner hatte die Schulleitungen angehalten, „schwarze Listen“ zu erstellen, also die Namen aller Streikenden an den Senat weiterzuleiten, da der Warnstreik für Verbeamtete und Angestellte gleichermaßen „rechtswidrig“ sei. Zudem drohte er in einem Schreiben vorab mit Gehaltsabzügen, Abmahnungen und bei „Wiederholungstätern“ sogar mit Kündigungen! Lehramtsanwärter sollten im Fall der Streikteilnahme durch die Probezeit rasseln. Damit schüttete Zöllner jedoch nur noch mehr Öl ins Feuer. Viele KollegInnen fühlten sich durch diese Provokationen noch darin bestärkt, endlich aktiv zu werden.

Auch SchülerInnen und Eltern mucken auf

Auf der Demonstration waren außerdem mehrere Dutzend SchülerInnen zu sehen. Gerade das Leonardo-da-Vinci-Gymnasium war mit vielen SchülerInnen vor Ort. Dort hat sich eine Gruppe gebildet, die seit einigen Wochen Unterschriften gegen die schlechten Lern- und Arbeitsbedingungen sammelt, nachdem eine junge Lehrerin aufgrund der Belastung plötzlich zusammengebrochen war. Schon am 27. Januar hatten 300 SchülerInnen und einige Pädagogen vor einer Personalversammlung an einer Kundgebung teilgenommen – initiiert vom Oberstufenzentrum II in Lichtenberg.

Auch bei den Eltern tut sich was. So hat der Berliner Landeselternausschuss 100.000 „rote Karten“ erstellt und einen landesweiten Elternprotest ausgerufen. Wie es gärt, zeigt sich auch daran, dass beispielsweise am 1. März allein an der neuen Gemeinschaftsschule Wilhelm von Humboldt beim Humannplatz 200 Eltern (ein Drittel aller Eltern an der Schule) und etliche der 50 LehrerInnen zu einer Krisenversammlung zusammen kamen.

von Herzinfarkten und Hörstürzen

„Entlastet die Alten, bevor sie erkalten“, stand auf einem Plakat. Konkret forderte die GEW, dass die älteren LehrerInnen ab 55 Jahren eine und ab 60 Jahren zwei bis drei Stunden weniger unterrichten sollten. Vor 20 Jahren durften die LehrerInnen bereits ab 50 Jahren eine Stunde weniger unterrichten, später erst ab 55 Jahren. Unter SPD-Schulsenator Klaus Böger fiel diese Altersermäßigung in Berlin – als einziges Bundesland überhaupt – ab dem Schuljahr 2002/2003 komplett weg.

Im Schuljahr 1990/1991 wurde die Zahl der Unterrichtsstunden für die Oberschullehrer von 22 auf 26 raufgesetzt, bei den Grundschullehrern von 25,5 auf 28 Stunden. „Für eine Schulstunde brauche ich aber fast ein halbes Dutzend Vor- und Nachbereitungsstunden“, erzählte mir Charlotte Voigt, Lehrerin vom Kollwitzplatz.

Als wenn man damit nicht schon genug Probleme hätte, senkten SPD und Linkspartei in dieser Legislaturperiode auch noch den Personalschlüssel von 105,5 auf 100 Prozent ab. Klingt nicht so wild, bedeutet aber, dass es direkt zu Unterrichtsausfall oder Überstunden kommt, sobald ein Pädagoge erkrankt. An der Wilhelm-von-Humboldt-Schule führte das in diesem Winter dazu, dass irgendwann ein Viertel des Kollegiums krank war (nachdem die KollegInnen erst eingesprungen waren und jeglichen Unterrichtsausfall kompensieren wollten).

Der Arbeitsstress ist mittlerweile katastrophal. „Von meinen Kollegen leiden allein drei am Burnout-Syndrom“, so Guido Schüler, Lehrer an der Clay-Sekundarschule in Rudow. „Wir hatten zahlreiche Ausfälle an der Schule, vor allem Herzinfarkte, Bandscheibenvorfälle und Hörstürze haben sich gerade in den letzten Monaten gehäuft“, meint Jonas Botta, Berliner Schülersprecher.

Die Reduzierung der Stundenzahl soll Ältere entlasten, aber auch zu mehr Neueinstellungen und einer Verjüngung der Kollegien führen. Zumal die Hälfte laut GEW um die 55 Jahre alt ist! Auf der Demo präsentierte die Stechlin-Schule in Friedenau auf einem Plakat sarkastisch ihren jüngsten Kollegen: Er ist 40 Jahre alt.

Ärger bereiten auch die kurzfristigen Personalumsetzungen während eines laufenden Schuljahres. Aus diesem Gund marschierte das Kollegium der Charlotte-Salomon-Grundschule in Kreuzberg am 5. April auch geschlossen in die Innenstadt.

„Schulen werden auf Verschleiß gefahren“

Es fehlt – aufgrund der Arbeitsbelastung und dem unsäglichen Personalschlüssel – nicht nur an Lehrkräften. Es mangelt auch an der räumlichen und finanziellen Ausstattung. Permanent zücken die Regierenden den Rotstift. Und das in einer Stadt, in der selbst nach offiziellen Angaben jedes vierte Kind „armutsgefährdet“ ist (so die Senatsverwaltung in ihrem „Bildungsbericht 2010“).

Bei der Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule, die sich noch im Aufbau befindet, fehlen derzeit für das kommende Schuljahr noch drei Klassenzimmer; die Mensa und eines von drei Schulgebäuden sind seit zwei Jahren Dauerbaustellen!

Bei anderen Schulen gilt, was ein Chemielehrer auf der Demonstration lautstark beklagte: „Die Schule wird wie die S-Bahn auf Verschleiß gefahren.“ In der Kleck-Grundschule in Berlin-Pankow führte das in den vergangenen Jahren dazu, dass der Sportunterricht im Winter jede zweite Woche ausfiel. Grund war der Zustand der Turnhalle, die seit 1967 nicht mehr renoviert worden war und in der die marode Heizung bei Minustemperaturen überfordert war. Deshalb musste dort jeden Morgen der Wärmegrad gemessen werden; die LehrerInnen versuchten sogar, mit Hilfe von in die Fensterrahmen gelegten Tüchern zu isolieren und dadurch zwei, drei Grad zu schinden!

Eine Bank müsste man sein

„Ein Tisch und ein Stuhl – für jedes Kind, das wäre cool“ und „Saniert die Schulen, nicht die Banken“ sind nur zwei von vielen Parolen, die auf den aus den Fenstern der Wilhelm-von-Humboldt-Schule gehängten Transparenten seit dem 5. April zu lesen sind. Jahrelang wurde von oben behauptet: „Es ist nun mal kein Geld da.“ „Diese Stadt ist pleite“. Seit dem Bankenrettungsschirm im Herbst 2008 sehen viele diese Argumentation in einem anderen Licht. Schließlich konnte auch der Berliner Senat 290 Millionen Euro für die deutschen Finanzhäuser locker machen.

Parteien ließen sich auf der Demonstration vom 5. April nicht blicken. Auch die Grünen, die sich in Berlin in der Opposition gerade zu profilieren versuchen, glänzten ebenfalls durch Abwesenheit – viel zu bieten hätten sie auch nicht gehabt, da sie sich ebenfalls gegen bessere Arbeitsbedingungen an den Schulen aussprechen. Die GEW-Vorsitzende Rosa-Marie Seggelke verlas auf der Abschlusskundgebung einen Brief. Geschrieben hatte diesen eine Partei, die die Forderungen der LehrerInnen als berechtigt bezeichnete. Zu Irritationen kam es erst Recht, als die Absenderin verlesen wurde: „Petra Pau, PDS“. – Flugs wurde erklärend das Datum des Briefes nachgeschoben. Er stammt aus dem Jahr 2000, als die PDS in Berlin noch Oppositionspartei war…

Nach jahrelangem Kahlschlag will der Senat nun unmittelbar vor der Abgeordnetenhauswahl im September 1.000 neue Lehrerstellen zum Schuljahr 2011/2012 besetzen. Das ist allerdings nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Schon die von der GEW geforderten 2.500 Neueinstellungen wären bescheiden.

Ein Mitglied der Tarifkommission fragte mich, als ich ihm auf der Kundgebung die „Solidarität“ anbot, wie sich die SAV bei den Wahlen verhalten wird. Er selber ist Mitglied der Europäischen Linken (der auch DIE LINKE angehört), weil er sich zum einen mit dem LINKE-Parteibuch schwer tat, zum anderen die Linkspartei und die Europäische Linke gegenwärtig aber auch als einzigen relevanten Ansatzpunkt auf der politischen Ebene versteht. Er begrüßte zwar unsere Bemühungen, für einen kämpferischen Kurs und für eine antistalinistische Haltung, also für eine sozialistische Demokratie einzutreten, wollte unsere Oppositionsarbeit aber nicht praktisch unterstützen. „Mir fehlt die Energie. Ich habe letzte Nacht Klassenarbeiten korrigiert, muss das auch auf der Heimfahrt fortsetzen und werde seit ein paar Jahren sowieso ständig krank.“

Den Widerstand weiter aufbauen – Schüler, Lehrer, Eltern gemeinsam

Die Streikbeteiligung und die vielfachen einzelnen Initiativen von SchülerInnen und Eltern unterstreichen, dass heute das Potenzial für den Aufbau einer berlinweiten Protestbewegung im Bildungsbereich existiert.

Leider versäumte es die GEW-Spitze auf der Kundgebung, klar die nächsten Kampfschritte zu benennen. Immerhin wurde auf einer anschließenden Versammlung im Cubix-Kino unter dem Eindruck der entschlossenen Demonstration und der Erwartungshaltung vieler GEW-Mitglieder darüber abgestimmt, Anfang Juni einen weiteren Aktionstag anzustreben. Die Frage eines eintägigen Streiks steht im Raum.

Renè Kiesel, Schüleraktivist vom OSZ für Bürowirtschaft II (der im Übrigen auch bei der SAV aktiv ist) sowie zwei Schülerinnen vom Leonardo-da-Vinci-Gymnasium sprachen sich unter großem Beifall auf der Abschlusskundgebung für gemeinsame Proteste von SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen aus.

Um von vereinzelten Protesten zu einer realen Bewegung zu kommen, sollte jetzt unmittelbar eine Solidaritätskampagne für alle nach dem Warnstreik mit Repressalien konfrontierten LehrerInnen gestartet werden. Zudem gilt es, die Bereitschaft für Gegenwehr zu nutzen und überall in den Bezirken Proteste gegen die Verantwortlichen in den Bezirksämtern und Bezirksparlamenten auf die Beine zu stellen – wie sich das zum Beispiel die Eltern der Wilhelm-von-Humboldt-Schule vorgenommen haben. Hier ist es nötig, die Verbindungen zwischen den Schulen zu verbessern. Vor allem aber kommt es jetzt darauf an, den Schwung von 5. April zu nutzen und für Anfang Juni auf einen gemeinsamen Streik- und Protesttag von LehrerInnen, ErzieherInnen SchülerInnen und Eltern hinzuarbeiten. Darauf könnte ein weiterer Streiktag kurz nach den Sommerferien folgen, der, wie schon angedacht, mit einem Sternmarsch zu einer Großdemonstration verknüpft werden könnte. Es sollten keine Illusionen in die Wahlen geschürt werden. Aber Großproteste vor den anstehenden Wahlen könnten den Druck enorm erhöhen, Zugeständnisse ermöglichen und es jeder neuen Regierung erschweren, gegen die Interessen von Pädagogen, Eltern und SchülerInnen Politik zu betreiben.

Zu Recht fordert die GEW einen Personalschlüssel von 110 Prozent. Die Forderungen nach Reduzierung der Unterrichtsstunden (also Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich), einem deutlich verbesserten Personalschlüssel und Neueinstellungen sollten verbunden werden mit einer massiv verbesserten räumlichen und finanziellen Ausstattung. Die Losung sollte sein: Mehr Personal, mehr Räume und mehr Mittel für die Bildung!