Buchvorstellung: David King – Roter Stern über Russland
»Man müßte das niederschreiben, sonst wird man es später entstellen.« Mit einer scherzhaft-hoffnunglosen Gebärde winkte Lenin ab: »Man wird sowieso lügen ohne Ende.«“(Leo Trotzki, Über Lenin) Lenin sollte mit diesem Zitat Recht behalten. Was für Geschichtsbücher und Dokumente galt, hörte bei der Bildgeschichte nicht auf. Die Geschichte der Sowjetunion ließe sich an der Geschichte von gefälschten Fotos und Bildern erzählen. David King dagegen, wirft mit seinem Buch „Roter Stern über Russland“, das im Juni auf deutsch erschien, einen atemberaubenden Blick hinter die Kulissen und präsentiert einen realen Einblick in das erst revolutionäre und später stalinistische Russland.
von Michael Koschitzki, Berlin
Rote Garden Oktober 1917
Kings Bildband zeigt 36 Jahre sowjetischer Geschichte. Angefangen bei der Februar-Revolution 1917 stellt er Personen und Ereignisse des Oktober-Umsturzes, des Bürgerkriegs, der Kollektivierung, den Terror der 30er Jahre, den Zweiten Weltkrieg und den Tod Stalins dar. Er verwendet dafür rund 550 Fotografien, Plakate, Bilder, Postkarten und Dokumente, die erklärt und eingeordnet werden. Mit zugespitzten, auf Fakten konzentrierten Kommentaren erklärt David King die Geschichte der Russischen Revolution und ihrer Degeneration unter Stalin.
Oktober-Revolution
Die Russische Oktober-Revolution 1917 war die erste, erfolgreiche sozialistische Revolution in der Geschichte. In Form von Räten, das heißt Fabrikkomitees, die zu ihrer Vertretung im höheren Gremium jederzeit abwählbare Repräsentanten ohne Privilegien schickten, kam die Arbeiterklasse das erste Mal an die Macht. Einerseits wirft David King ein Licht auf die bolschewistischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die in den Kampf für die sozialistische Revolution getreten waren; zeigt ihr Selbstbewusstsein sowie ihre natürlichen menschlichen Seiten, Ängste und Nöte. Andererseits zeigt „Roter Stern über Russland“ eine Vielzahl von Werken der KünstlerInnen und GraphikerInnen der Revolutionszeit.
Chronologisch zeigt er auch den Niedergang der Revolutionskunst. Nachdem die Russische Revolution isoliert blieb und beschränkt auf ein Land, dass fast sechzehn mal so viele BäuerInnen hatte, wie ArbeiterInnen, konnte sich eine Bürokratie erheben, deren Ausdruck die Person Stalin war. Um ihre Macht zu halten, führte sie einen Krieg gegen die früheren Revolutionäre, KünstlerInnen und Andersdenkende. Exemplarisch wird die Folter des revolutionären Regisseurs Meyerhold beschrieben, der nach einigen Wendungen dem Terror zum Opfer fiel. „"Der Tod (oh natürlich!), der Tod ist leichter als das!" sagte sich der Angeklagte. Und auch ich sagte es mir."“
Bilder eines Arbeiterstaats
Während Autoren, wie Robert Service, die ihre Lebensaufgabe darin sehen, mit Lügen die Russische Revolution zu entfremden, im „The Observer“ über David Kings Buch schreiben, die Bolschewiki hätten die Geschichte ab 1918 gefälscht, zeichnet Roter Stern über Russland ein anderes Bild.
Agit-Prop Theater 1921, S. 215, Unterschrift: Wir bauen eine Luftflotte im Auftrag Lenins, Plakat 1931
Sehr deutlich zeigen Bilder und Begleittexte, wieviel Freiheit im Arbeiterstaat zu Lenins Zeit herrschte. Das Buch ist mit einer Reihe von Aufnahmen und Bildern versehen, die erstellt wurden, bevor Stalin seine Macht ausgebaut hat. Sie zeigen den Kontrast zur Einfältigkeit der stalinistischen Propaganda. Diese Aufnahmen, die der stalinistischen Fälschung nicht die Hände fielen, zu retten und zu sammeln, ist ein besonderer Verdienst von Kings Arbeit.
David King
Über sich selbst sagt der Autor: „Schon als Kind verabscheute ich den Kapitalismus. Ich hielt ihn für ungerecht. Auch Religion und Monarchie war mir zuwider. Als mein Onkel, ein Sozialist, mich über das wahre Wesen der herrschenden Klasse aufklärte, war ich mit ihm der Meinung, dass sie unbedingt gestürzt werden müsse. Wie alle Kinder, so träumte auch ich davon, wie das Leben im 21. Jahrhundert sein würde. Hätte mir jemand gesagt, dass es dann immer noch Ungleichheit, Rassismus, Könige und Königinnen und religiöse Fanatiker geben würde, die den Planeten drangsalieren. Ich hätte ihn für verrückt erklärt.“ (S. 14)
Der 1943 geborene Designer und Fotohistoriker konnte mit seinem Buch ein Projekt vollenden, das ihn schon Jahrzehnte beschäftigte.David King war Leiter des Kunst-Ressorts bei der Londoner Sunday Times. Im Jahre 1970 führte ihn eine Arbeit über Lenin in die Sowjetunion, der er noch mehrmals einen Besuch abstatten sollte. Seine Recherche brachte ihn schnell auf Trotzki, der schnell im Mittelpunkt seines Interesses stehen sollte, über den er aber erstmal nicht viel erfahren konnte: „Doch die Person, die mich vor allem interessierte, war nirgendwo sichtbar. Deshalb fragte ich immer wieder: „Ja, schon, aber wo ist Trotzki?“ oder: „Das ist sehr interessant, aber was ist mit Trotzki?“. In den amtlichen Fotoarchiven unternahm man schüchterne Versuche, wenigstens ein einziges Foto des zweiten Führers der russischen Revolution zu finden. Es gab keines. Man hatte ihn ganz und gar beseitigt, und, wie ich bald herausfinden sollte, mit ihm auch unzählige andere.“
Leo Trotzki
Der russische Revolutionär Leo Trotzki stand wie kein Zweiter für die Fortsetzung des Marxismus und von Lenins Ideen nach seinem Tod. Von der Bürokratie um Stalin herum wurde er deshalb verfolgt und seine Rolle in der Russischen Revolution aus den Geschichtsbüchern getilgt. David King machte sich auch zur Aufgabe die Bildgeschichte Leo Trotzkis wieder zu beleben. Das war nicht leicht. Eine 15-seitige Trotzki Beilage im Sunday Times Magazine in einer Auflage von 1,5 Millionen wurde von einem Streik gestoppt, der vermutlich von Stalinisten angezettelt wurde.
Trotzki als Führer der Roten Armee 1923
David King erzählt auch die Geschichte, vom britischen Stalinisten Rothstein, der ihm 1971 empört nicht weiterhelfen wollte, Bilder von Trotzki zu besorgen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion litt die britische Kommunistische Partei unter Geldnot und eines Tages standen zwei Herren vor Kings Tür: „Zum Vorschein kam etwas ebenso Seltenes, wie der legendäre Vogel [Malteser Falke d.A.]. Es war eine Porzellantasse in einwandfreiem Zustand, auf die Michail Adamowitsch 1923 Trotzki als Führer der Roten Armee gemalt hatte. Es handelte sich um eine Spende für ihre Zeitung, um Geld zu bekommen. Der Spender war – Andrew Rothstein. Der Krug war über 70 Jahre lang unter seinem Bett versteckt gewesen.“ (S. 15)
Unbekannter Künstler ca. 1920
Roter Stern über Russland zeigt ausgezeichnet die Rolle von Leo Trotzki während der Russischen Revolution und in der Geschichte der Sowjetunion und bringt beeindruckendes Bildmaterial zu Tage. Es zeigt Trotzki in der Führung des Revolutionären Militärkommitees und seine Rolle im Bürgerkrieg und begleitet ihn in seiner Zeit der Opposition bis zum Exil und der Ermordung in Coyoaćan. Die rechtzeitige Erscheinung des Bildbandes zum 70sten Jahrestag von Trotzkis Ermordung ist ein Beitrag seine Rolle nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Moskauer Prozesse und II. Weltkrieg
Grigori Jewdokimow, 1936 erschossen
Doch nicht nur Trotzkis Ermordung wird angeprangert. Das Buch gibt einen schonungslos realen Einblick in die Verbrechen des Bürgerkriegs und die Verbrechen des Stalinismus. Bilder dokumentieren die Hungersnot in der Ukraine. Fotografien geben einerseits einen Einblick in das Leben der Kolchose aber auch die Zwangskollektivierungen sind dokumentiert.
Eine Sammlung von Fotografien der Hingerichteten der Moskauer Prozesse zeigen die Opfer der stalinistischen Säuberungen und geben kurze Einblicke in ihr Leben. Unterschiedliche Fotos aus dem zweiten Weltkrieg, die mit Propaganda-Plakaten gemischt sind, lassen dem Leser die Möglichkeit sich ein eigenes Bild zu machen.
Eins behalten – Eins weitergeben
Das britische Literatur-Magazin Literary-Review schreibt über David Kings Buch: „Eine Ausgabe dieses Buches sollte in jeder öffentlichen Bibliothek stehen, in jeder Oberschule, es gehört in die Hände von jedem, der verstehen will, was Russland zu dem gemacht hat, was es heute ist. Kaufe eins zum Behalten und Eins zum Weitergeben.“
Tatsächlich ist Roter Stern über Russland ein ausgezeichnetes Buch, sowohl für alle, die sich das erste Mal mit der Geschichte der Russischen Revolution auseinandersetzen, als auch für erfahrende Revolutionärinnen und Revolutionäre sowie Historikerinnen und Historiker. Ein glänzender Beitrag zur Visual History des Zwanzigsten Jahrhunderts.
David King: Roter Stern über Russland. Eine visuelle Geschichte der Sowjetunion von 1917 bis zum Tode Stalins, Mehring-Verlag 2010, 39,90 Euro ISBN: 978-3-88634-091-0