Zu Gründung und Niedergang einer Karikatur auf Sozialismus
Der 20. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer trifft zusammen mit der größten Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft seit der Großen Depression, die vor 80 Jahren begann. Diejenigen, die diese Krise zu verantworten haben und nicht für ihre Folgen zahlen müssen – die Kapitalisten und ihre Sachverwalter in den Regierungen – werden das Jubiläum der revolutionären Massenbewegung in der DDR im Herbst 1989 und des Zusammenbruchs der Ostblock-Staaten zum Anlass nehmen, von der Krise ihres Systems abzulenken und zu behaupten, dass es zur kapitalistischen Marktwirtschaft keine Alternative gebe – wie der Zusammenbruch des so genannten ‘realen Sozialismus’ gezeigt habe.
von Sascha Stanicic
Gleichzeitig hat die Weltwirtschaftskrise das Selbstbewusstsein solcher Linker wieder steigen lassen, die in der DDR und den anderen Staaten des Ostblocks ein sozialistisches System, oder zumindest einen legitimen ‘Versuch’ ein solches zu errichten, erblicken und sicher gibt es auch einige junge AntikapitalistInnen die sich fragen, ob an der DDR tatsächlich alles so grausam war, wie es die pro-kapitalistischen Massenmedien und bürgerlichen Politiker darstellen. Für die große Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse und Jugendlichen gilt jedoch weiterhin, dass die DDR eine Diktatur war, auch wenn ein wachsender Teil der Ostdeutschen der sozialen Sicherheit und solidarischeren gesellschaftlichen Atmosphäre der DDR zumindest eine Träne nach weint.
Die Haltung zur DDR ist dementsprechend von großer Bedeutung für politische Kräfte, die sich den Sozialismus auf die Fahne geschrieben haben. Darin beantwortet sich nicht nur die Frage, was man unter Sozialismus versteht, sondern auch die Frage, ob man Vertrauen und Unterstützung in einer Mehrheit der Arbeiterklasse für eine sozialistische Perspektive wird finden können.
Voraussetzungen für die Gründung der DDR
Die DDR war ein Produkt der neuen Weltlage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dieser war von einem Bündnis ungleicher Kräfte gewonnen worden: den kapitalistisch-imperialistischen Mächten USA, Frankreich, Großbritannien und der nicht-kapitalistischen Sowjetunion. Mit der Niederlage des Hitler-Faschismus war auch die Basis dieses Bündnisses nicht mehr gegeben und die tiefen Gegensätze zweier grundsätzlich unterschiedlicher Wirtschaftssysteme und der Interessen der in den verschiedenen Systemen Herrschenden mussten im Verhältnis dieser Staaten wieder dominant werden.
In der Sowjetunion war nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917 Kapitalismus und Großgrundbesitz abgeschafft worden. ArbeiterInnen und Bauernschaft hatten das alte unterdrückerische und ausbeuterische System hinweggefegt und einen Sowjetstaat errichtet. Sowjet ist das russische Wort für ‘Rat’ – es war ein Staat der demokratisch gewählten Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte. Diese hatten mehrheitlich die von Lenin und Trotzki geführte bolschewistische Partei in die Führung der Räte gewählt und auf der Basis des revolutionär-sozialistischen Programms der Bolschewiki das Tor hin zur sozialistischen Weltrevolution aufgestoßen. Doch außer den Russen schritt kein Land durch dieses aufgestoßene Tor. Der russische Arbeiterstaat blieb isoliert. Und in seiner Isolierung und wirtschaftlichen, sowie kulturellen Rückständigkeit war er nicht in der Lage eine sozialistische Entwicklungsrichtung einzuschlagen. Die politische Macht entglitt den Räten und konzentrierte sich in den Händen der Funktionäre in Partei und Staat, die diese dazu nutzten ein System zu etablieren, das ihnen Privilegien und Macht sicherte. Eine unterdrückerische bürokratische Kaste erhob sich über die Gesellschaft, ihr personalisierter Ausdruck war Josef Stalin, Generalsekretär der Kommunistischen Partei. Doch diese Kaste tastete die durch die Oktoberrevolution geschaffenen ökonomischen Verhältnisse in Russland nicht an: das Staatseigentum an Industrie und Banken, das staatliche Außenhandelsmonopol – der Kapitalismus blieb abgeschafft. Die Sowjetunion war schon kein Kapitalismus mehr, aber auch weder Sozialismus noch eine Arbeiterdemokratie (in klassischer marxistischer Terminologie ‘Diktatur des Proletariats’), sondern eine nicht vorhersehbare nicht-kapitalistische Übergangsgesellschaft, in der eine bürokratische Funktionärselite eine Diktatur über das Proletariat errichtet hatte. Trotzki nannte diesen Staat einen ‘entarteten Arbeiterstaat’, das System ging als Stalinismus in die Geschichte ein.
Ein Verständnis des Charakters der Sowjetunion ist eine Voraussetzung für ein Verständnis der DDR. Nicht nur, weil die DDR durch die sowjetische Besatzung nach dem Modell des sowjetischen Staates geschaffen wurde. Sondern auch, weil die Entstehungsgeschichte der DDR nur durch ein Verständnis der Interessen der Führung der Sowjetunion erklärt werden kann.
Diese hatte sich wie ein Krebsgeschwür in die verstaatlichte Planwirtschaft Russlands hinein gefressen. Sie musste Marxismus und die Ideale der Oktoberrevolution propagieren, weil sie ansonsten keine soziale Verankerung in der Gesellschaft hatte, die Produktionsmittel gehörten ihr ja nicht, sondern sie hatten nur die Kontrolle darüber. Sie musste sich gleichsam gegen die eigene Arbeiterklasse rüsten, da diese sich gegen politische Unterdrückung und Abschöpfung eines großen Teils des gesellschaftlichen Mehrprodukts zur Finanzierung der Privilegien der Bürokratie hätte wenden können, als auch gegen den internationalen Kapitalismus, der das Gebiet der Sowjetunion für den Weltmarkt verloren hatte und ein natürliches Expansionsstreben in diese Richtung entwickeln musste. Letzteres war auch der Grund, weshalb Großbritannien und andere imperialistische Mächte, trotz ihrer Interessenkonflikte mit dem faschistischen Deutschland, zuerst darauf hofften, dass Hitler die Sowjetunion bezwingen würde und erst im Verlauf der Ereignisse gezwungen wurden, mit der Sowjetunion ein Bündnis gegen das Weltmachtstreben des deutschen faschistischen Kapitalismus zu bilden.
Ausgehend von dieser Konstellation hatte die herrschende Elite in Moskau vor allem an einem Zustand Interesse: Ruhe. Sie hatte kein Interesse an Revolutionen der Arbeiterklasse in anderen Ländern, weil wirkliche Arbeitermacht in einem anderen Land, ihre privilegierte und diktatorische Stellung in der Sowjetunion hätte in Frage stellen können. Sie wollten natürlich auch Sicherheit vor Versuchen der imperialistischen Staaten, sich den russischen Markt wieder unter den Nagel zu reißen, weil das ihre eigene Machtbasis untergraben hätte.
Stalins Außenpolitik
Dieser Wunsch der Moskauer Bürokratie nach dem Erhalt der bestehenden Verhältnisse drückte sich seit Mitte der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts in einer Politik der Bündnisse mit kapitalistischen Kräften zur Verteidigung der bürgerlich-kapitalistischen Demokratie gegen den Faschismus aus. Auf diesem Altar wurde die Spanische Revolution geopfert. Dass die Stalin-Clique keinerlei politische Prinzipien hatte, sondern nur ihre eigene Position sichern wollte, zeigte sich dann nicht zuletzt beim Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland, dem so genannten Hitler-Stalin-Pakt. Dieser sollte einen Angriff Deutschlands auf die UdSSR verhindern und ermöglichte der sowjetischen Bürokratie gleichzeitig ihr Einflussgebiet auf Ostpolen und das Baltikum auszudehnen. Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion schwenkte die stalinistische Bürokratie wieder auf den Kampf für ‘die Demokratie’ um und bildete die Anti-Hitler-Koalition mit den ‘demokratischen’ Imperialisten Roosevelt, Churchill und de Gaulle.
Doch während sie kein Interesse an wirklichen sozialistischen Revolutionen hatte, weil diese zu wirklicher Arbeitermacht hätten führen können, war sie in den Ländern, die sie in ihr Machtgebiet einverleibte geradezu gezwungen, deren soziale und ökonomische Struktur der der Sowjetunion anzugleichen. Dies geschah nach 1939 in Polen. Leo Trotzki hatte das vorhergesehen. In einem in dem Sammelband ‘Verteidigung des Marxismus’ veröffentlichten Text schrieb er: “Insofern Stalins bonapartistische Diktatur sich nicht auf privates, sondern auf Staatseigentum gründet, müsste die Invasion in Polen durch die Rote Armee der Natur der Sache nach mit der Beseitigung des privatkapitalistischen Eigentums enden, um das Regime in den besetzten Gebieten in Übereinstimmung zu bringen mit dem Regime der UdSSR. Diese Maßnahme, revolutionär in ihrem Charakter – ‘die Expropriation der Expropriateure’ -, wird in diesem Fall auf militärisch-bürokratische Weise durchgeführt.”
Diese beiden Aspekte – das Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion und die sich aus dem nicht-kapitalistischen Klassencharakter ihrer Ökonomie ergebende Dynamik – spielten eine entscheidende Rolle bei der Politik der sowjetischen Besatzungsmacht in Ostdeutschland und der späteren DDR.
Mit der Niederlage Deutschlands bestand die Grundlage für das Bündnis zwischen der Sowjetunion auf der einen und den USA, Großbritannien und Frankreich auf der anderen Seite nicht mehr. Doch das Auseinanderbrechen dieses Bündnisses war in der tatsächlichen geschichtlichen Entwicklung natürlich ein Prozess, der bis Frühjahr 1947 dauerte. Bis dahin erweckten die Siegermächte den Anschein, sie könnten Europa im Konsens unter sich aufteilen. Wie dies geschah, berichtet Winston Churchill in seinen Memoiren: “Um 10.00 abends des 9. Oktober 1944 fanden wir uns dann zur ersten wichtigen Sitzung im Kreml ein. Da mir der Moment günstig erschien, um die Dinge entschlossen anzupacken, sagte ich: ‘Lassen sie uns unsere Angelegenheiten im Balkan regeln. Ihre Armeen sind in Rumänien und Bulgarien. Wir haben dort Interessen, Missionen und Agenten. Lassen Sie uns dort nicht in kleinlicher Weise gegeneinander arbeiten. Um nur von Großbritannien und Russland zu sprechen, was würden Sie dazu sagen, wenn Sie in Rumänien zu neunzig Prozent das Übergewicht hätten und wir zu neunzig Prozent in Griechenland, während wir uns in Jugoslawien auf halb und halb einigen?’ Während das übersetzt wurde, schrieb ich auf ein halbes Blatt Papier:
Rumänien: Russland 90%, die anderen 10%;
Griechenland: Großbritannien 90% (im Einvernehmen mit den USA), Russland 10%;
Jugoslawien: 50:50;
Ungarn: 50:50;
Bulgarien: Russland 75%, die anderen 25%.
Ich schob den Zettel Stalin zu, der mittlerweile die Übersetzung gehört hatte. Eine kleine Pause trat ein. Dann ergriff er einen Bleistift, machte einen großen Haken und schob uns das Blatt zu. Die ganze Sache beanspruchte nicht mehr Zeit, als sie zu schildern. Das mit Bleistift beschriebene Papier lag in der Mitte des Tisches. Schließlich sagte ich: ‘Könnte man es nicht für ziemlich frivol halten, wenn wir diese Fragen, die das Schicksal von Millionen Menschen berühren, in so nebensächlicher Form behandeln? Wir wollen den Zettel verbrennen.’ ‘Nein, behalten Sie ihn’, sagte Stalin.”
Besetzung Deutschlands
Als die Rote Armee den Osten Deutschlands besetzte und die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) gebildet wurde, hatte die Moskauer Führung keinen Plan, den Kapitalismus in der SBZ abzuschaffen. Sie wollte ihre Macht erhalten und an den Wiederaufbau der stark zerstörten Sowjetunion gehen. Um letzteres zu ermöglichen erhob die Sowjetunion enorme Reparationsansprüche an das niedergerungene Deutschland. Diese konnte sie nach dem Potsdamer Abkommen der Siegermächte aus der SBZ entnehmen und außerdem zu einem Teil aus den von den westlichen Alliierten besetzten Zonen.
Die Reparationen an sich waren schon ein anti-sozialistischer Akt, der das Potenzial für eine tatsächlich sozialistische, also von der deutschen Arbeiterklasse selber getragene, Umwälzung der Gesellschaft erschwerte. Warum? Erstens lag der Logik der Reparationen die als Kollektivschuldthese bekannte Annahme zu Grunde, das gesamte deutsche Volk, also einschließlich der Arbeiterklasse, trage die Verantwortung für den Faschismus und den Zweiten Weltkrieg. Warum diese These falsch ist, kann an dieser Stelle nicht ausführlich erläutert werden. Es sei nur daran erinnert, dass die NSDAP zu keinem Zeitpunkt bei freien Wahlen eine Mehrheit in der Weimarer Republik erzielte und Hitler nur mit den Stimmen der anderen bürgerlichen Parteien im Reichstag zum Kanzler gewählt und sein Ermächtigungsgesetz durchsetzen konnte, ganz zu Schweigen von der massiven finanziellen Unterstützung der Nazis durch die Krupps und Thyssens. Die Nazi-Diktatur war eine Diktatur über die Arbeiterklasse, ihr erster Zweck die Zerstörung der organisierten Arbeiterbewegung in Deutschland mit dem Ziel die Macht des Kapitalismus zu erhalten, die Profitraten zu steigern und Deutschland kriegsfähig zu machen.
Zweitens musste die deutsche Arbeiterklasse und nicht die Kapitalistenklasse für die Reparationen zahlen. Das konnte die Unterstützung für die Sowjetunion in der deutschen Bevölkerung nur untergraben.
Drittens führten die Reparationen zu einer Schwächung der deutschen Industrie und damit auch der Arbeiterklasse und der ökonomischen Basis für einen möglichen zukünftigen deutschen Arbeiterstaat.
Die Politik Stalins nach dem Zweiten Weltkrieg stand in offensichtlichem Gegensatz zur Politik der Bolschewiki und des revolutionären Russlands nach dem Ersten Weltkrieg, als von dort die Forderung nach einem ‘demokratischen Frieden ohne Annexionen und Reparationen’ aufgestellt wurde.
Das Stabilitäts- und Sicherheitsbedürfnis der sowjetischen Bürokratie führte dazu, dass sie für Deutschland keine sozialistische Gesellschaftsform anstrebte, sondern einen entmilitarisierten, neutralen, kapitalistischen Pufferstaat favorisierte. Diesen Gedanken vertrat Stalin selbst noch 1952 in der berühmten Stalin-Note, die ein vereinigtes, neutrales Deutschland mit eigenen Streitkräften vorsah. In diesem Zusammenhang kann man sehr wohl sagen, dass die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend von den Westmächten und der Adenauer-Regierung zu verantworten ist. Adenauers Leitsatz aus Sicht des Kapitalismus war: Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland halb.
Natürlich versuchte die stalinistische Bürokratie trotzdem ein Höchstmaß an Kontrolle über die SBZ zu erlangen. Das war aus ihrer Sicht am besten möglich, wenn Mitglieder der KPD die entscheidenden Funktionen besetzten. Der spätere SED-Führer Walter Ulbricht fasste das so zusammen: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“
Sozialistische Stimmung in der Arbeiterklasse
Tatsächlich gab es nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Arbeiterklasse Deutschlands eine ausgeprägt pro-sozialistische Stimmung. Vielen war klar, dass der Faschismus weder vom Himmel gefallen war, noch Produkt des kollektiven Wahnsinns des gesamten deutschen Volks war. Um eine Wiederholung einer faschistischen Diktatur und der Grauen des Krieges zu vermeiden gab es massenhafte Unterstützung für die Idee der Sozialisierung der großen Industrien und für die Idee der Einheit der Arbeiterbewegung, denn die Unfähigkeit von SPD und KPD vor 1933 geschlossen gegen die Nazis zu kämpfen wurde zu Recht als eine wichtige Voraussetzung für Hitlers Machtergreifung gesehen.
Dementsprechend gab es nach Kriegsende in vielen Städten und Betrieben eine Dynamik zur antifaschistischen Selbstorganisation von ArbeiterInnen. Diese versuchten durch den Aufbau so genannter Antifa-Komitees und räteähnlicher Strukturen Wirtschaft und Versorgung wieder ins Laufen zu bekommen und eine Entnazifizierung in Staat, bzw. was davon übrig war, und Verwaltung zu organisieren.
Ein Bericht des US-Geheimdienstes vom 30. Juni 1945 führt dazu aus: “Ein Kennzeichen, der als Massenorganisationen gebildeten antifaschistischen Gruppierungen ist (…) der Wunsch derjenigen sozialen Gruppen, die in den letzten 12 Jahren keine Möglichkeit hatten, ihr Leben selbst zu gestalten, beim Aufbau Deutschlands Einfluss zu gewinnen. (…) Diese Organisationen entsprangen der Überzeugung, dass der Nationalsozialismus aus jedem Lebensbereich Deutschlands getilgt werden müsse. Diese Überzeugung wird nicht nur als ideologisches Prinzip vertreten, das für ein neues demokratisches Deutschland nötig sei, sondern auch als ein realistisches Konzept, das eine grundlegende Machtverschiebung vorsieht; d.h., die Gruppen, die den Nationalsozialismus hervorgebracht hätten und ihn zwangsläufig hervorbringen müssten, sollten die Macht an die Gruppen abtreten, die von ihm unterdrückt worden seien (…) Die Mehrheit der Organisationen wurde folglich aus Widerstandszellen der Nazi-Periode gebildet, d.h. von denjenigen, die von Anfang an auf den Umsturz der Nazis und ihrer wirtschaftlichen und sozialen Trägerschichten abzielten. (…) Unter diesen Umständen (ist) es natürlich, dass die alte Arbeiterklasse, die aktivste Gruppe von Nazi-Gegnern in der deutschen Gesellschaft, die überwiegende Mehrheit und auch den Großteil der Führer dieser Organisationen stellt.”
In seinem Roman ‘Schwarzenberg’ beschreibt Stefan Heym beeindruckend, wie sich in dem Teil des Erzgebirges, in dem für eine kurze Zeit keine Besatzungstruppen stationiert waren, eine weitgehende Selbstorganisation der Bevölkerung entwickelte, die sich ein in Grundzügen sozialistisches Programm zum Wiederaufbau der Gesellschaft zu eigen machte.
Die Forderung nach Sozialisierung der Wirtschaft war weit verbreitet. Der sozialistische Historiker der deutschen Arbeiterbewegung Wolfgang Abendroth schrieb dazu, das diese Zeit “die kurze Blüteperiode sozialistischen Denkens (war), in der es (…) auch vorübergehend ohne Zweifel die Majorität dieser Nation gewonnen hatte,” Dies galt, nebenbei bemerkt, nicht nur für Deutschland, sondern für einen großen Teil des von faschistischer Besatzung und Krieg befreiten Europas.
Diese pro-sozialistische Stimmung und die Hoffnung auf einen Aufbau einer Gesellschaft, in der mit der Macht der Kapitalisten auch die Wurzeln von Faschismus und Krieg ausgemerzt würden, drückte sich in vielerlei Hinsicht aus. Die in den westlichen und östlichen Zonen gegründeten Parteien mussten sich ein sozialistisches Profil geben. Die CDU bezeichnete sich 1946 in Berlin als ‘die große deutsche sozialistische Volkspartei’ und in ihrem Ahlener Programm von 1947 schrieb die NRW-CDU: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. (…) Inhalt und Ziel (einer) sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.” Ein ‘Sozialismus aus christlicher Verantwortung’ wurde von Jakob Kaiser und anderen CDU-Führern propagiert. Der SPD-Führer der Westzonen Kurt Schumacher sprach vom ‘Sozialismus als Tagesaufgabe’ und die Gewerkschaftsführer Hans Böckler und Fritz Tarnow werden mit folgenden Worten zitiert: “Der Kapitalismus liegt in seinen letzten Zügen.” Und: “Die Gegenwart geht schwanger mit einer neuen Ordnung. (…) Es kann kein Zweifel sein, dass die Uhr der freien, privat-kapitalistischen Produktionsordnung abgelaufen ist.” Am 1 Dezember 1946 stimmten 72 Prozent bei einer Volksabstimmung in Hessen für die Überführung in gesellschaftliches Eigentum von Bergbau, der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie und des an Schienen und Oberleitungen gebundenen Verkehrswesens. Im Juni erzielte ein Volksentscheid in Sachsen für die Enteignung der Betriebe von aktiven Nationalsozialisten und Kriegsverbrechern sogar 77,7 Prozent.
Das Bewusstsein und der Wille in der Arbeiterklasse war nach dem Zweiten Weltkrieg kein Hindernis für einen sozialistischen Wiederaufbau Deutschlands. Das waren die Interessen der Besatzungsmächte – in West und Ost.
Dies widerspiegelte sich im Programm der am 11. Juni 1945 wieder gegründeten KPD, welches ‚bürgerlicher‘ war als alle anderen Parteiprogramme. Darin war mit keinem Wort vom Sozialismus die Rede. Die KPD war nicht mehr als ein Organ der Außenpolitik Moskaus. Die Macht in der SBZ lag in den Händen der Sowjetischen Militäradministration (SMAD). Die SMAD ließ ab Mitte Juni Parteien zu, um den Antifa-Komitees, die später auch bürokratisch aufgelöst wurden, die Initiative aus der Hand zu nehmen und vor allem über die KPD die Kontrolle über das politische Leben in der deutschen Bevölkerung ausüben zu können. Sie verfügte in ihrem ‘Befehl Nummer 2‘: “Es wird bestimmt, dass für die ganze Zeit des Okkupationsregimes die Tätigkeit aller (..) Organisationen unter der Kontrolle der Sowjetischen Militärischen Administration und entsprechend den von ihr gegebenen Instruktionen vor sich gehen wird.” Selbstbestimmung eines Volkes sieht anders aus.
Der Historiker Hermann Weber schreibt in seiner ‘Geschichte der DDR’ über die Gründung der KPD: “Der Gründungsaufruf der KPD vom 11. Juni forderte (…) Die ‘Liquidierung der Überreste des Hitlerregimes’, aber keineswegs eine sozialistische Umgestaltung Deutschlands, sondern die ‘Vollendung’ der Revolution von 1848. So wirkte der Aufruf in vielen Teilen wie eine Abkehr von den revolutionären Traditionen der Partei. Die KPD-Führer wandten sich nachdrücklich gegen die Einführung des Sowjetsystems in Deutschland, da ‘dieser Weg nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland’ entspräche. Vielmehr traten sie ein für die Errichtung einer ‘demokratischen Republik’, eines ‘antifaschistisch-demokratischen Regimes’ mit ‘allen Rechten und Freiheiten für das Volk’. Darüber hinaus sicherte der Aufruf die ‘völlig ungehinderte Entfaltung des freien Handels und der privaten Unternehmerinitiative’ zu. Diese Politik entsprach völlig der damaligen Linie Stalins für Osteuropa und Deutschland. Ulbricht selbst bestätigte später, dass ‘das Politbüro der KPdSU uns ausdrücklich darauf aufmerksam machte, dass wir in Deutschland nicht die Formen der Sowjetmacht und andere sowjetische Formen einfach übernehmen können.”
Hinter dieser Linie steckte das grundlegende Interesse der Moskauer Bürokratie den status quo zu erhalten, unabhängige sozialistische Bewegungen der Arbeiterklasse zu unterdrücken und einen Ausgleich mit dem Imperialismus in ‘friedlicher Koexistenz’ zu finden. Die theoretische Begründung für diese Politik war mit der so genannten Etappentheorie geliefert worden, die eine lange Phase demokratisch-kapitalistischer Entwicklung als Voraussetzung für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft betrachtete. Gleichzeitig wollte die Sowjet-Bürokratie mittels Besatzung und KPD die Kontrolle über die SBZ in ihren Händen konzentrieren. Die Bewegung der Antifa-Komitees und die revolutionären Ambitionen vieler einfacher KPD-Mitglieder standen dem im Weg. Wolfgang Leonhard, der zur ‘Gruppe Ulbricht’ der Exil-Kommunisten gehörte, die als erste mit den Sowjets in Ostdeutschland eintraf, schreibt in seinem Buch ‘Die Revolution entlässt ihre Kinder’: “Der Stalinismus kann nicht zulassen, dass durch selbständige Initiative von unten antifaschistische, sozialistische und kommunistische Bewegungen oder Organisationen entstehen, denn er liefe stets Gefahr, dass sie sich seiner Kontrolle entziehen und sich gegen Direktiven von oben zu stellen versuchen. Die Auflösung der Antifaschistischen Komitees war daher nichts anderes als die Zertrümmerung erster Ansätze einer vielleicht machtvollen, selbständigen, antifaschistischen und sozialistischen Bewegung. Es war der erste Sieg des Apparats über die selbständigen Regungen der antifaschistischen, links eingestellten Schichten Deutschlands.”
Nach den Antifa-Komitees wurden später auch die Betriebsräte aufgelöst. Dazu schreibt Hermann Weber: “In den Betrieben herrschte nach Kriegsende eine Art ‘Machtvakuum’, das – wie auch im Westen Deutschlands – von den Vertretern der Arbeiter, in erster Linie von den Betriebsräten ausgefüllt wurde. Sie wollten den Wiederaufbau ‘von der Basis’ her voran treiben, die Wirtschaft demokratisieren. Vor allem die älteren Industriefacharbeiter ergriffen spontan die Initiative, um eine Art Selbstbestimmung der Arbeiter zu erreichen. Auch wenn diese Entwicklung nicht überschätzt werden sollte, so hat doch erst die schrittweise Aushöhlung und dann die Auflösung der Betriebsräte diese Arbeiterinitiative mit ihrer betrieblichen Mitbestimmung in der SBZ ganz ausschalten können. Sie passte nicht in das Konzept von SMAD und KPD-SED.”