Recht haben ist nicht gleich Recht bekommen
Acht Monate nachdem Lucy Redler und Sascha Stanicic ihren Eintritt in die Partei DIE LINKE erklärten, hat die Bundesschiedskommission letztinstanzlich entschieden, den beiden SAV-Sprechern die Mitgliedschaft in der Partei zu verweigern.
Die Auseinandersetzung um die Mitgliedschaft dieser beiden und neun weiterer SAV"lerInnen wurde in diesem Zeitraum in der Partei breit diskutiert. Viele Mitglieder, Funktionäre, MandatsträgerInnen und Gremien der Partei und des Jugendverbandes hatten sich für die Mitgliedschaft der betroffenen SAV"lerInnen ausgesprochen und eine Verweigerung derselben als einen Widerspruch zum offenen und pluralen Charakter der Partei gesehen. Viele Mitglieder haben einen politischen Zusammenhang zwischen dem, aus der Parteiführung eingeleiteten, Vorgehen gegen die SAV"lerInnen und öffentlichen Aussagen von Gregor Gysi, Ulrich Maurer und Bodo Ramelow gegen „Spinner“ und „Sektierer“ und auch dem inhaltlichen Anpassungsprozess von Teilen der Parteiführung, der sich unter anderem im ersten Entwurf für ein Programm zur Bundestagswahl ausdrückte, gesehen. Prominente KritikerInnen der Regierungspolitik der LINKEn im Berliner Senat sollten aus der Partei fern gehalten werden.
Der Einspruch gegen die Mitgliedschaft ging vom stellvertretenden Parteivorsitzenden Klaus Ernst aus. Er warf den SAV-Mitgliedern vor, sie verstoßen gegen die programmatischen Eckpunkte, würden die Fusion weiterhin verhindern wollen, seien nicht bereit Parteibeschlüsse zu respektieren usw. Gegen elf SAV"lerInnen – die alle angeblich aufgrund ihres individuellen Verhaltens nicht in die Partei aufgenommen werden sollten – wurden weitgehend wortgleiche Einsprüche erhoben. Die Landesschiedskommission der Partei in Berlin bestätigte diese Einsprüche mit ebenso weitgehend wortgleichen Begründungen, aus denen ein bürokratisch-zentralistisches Organisationsverständnis hervor ging, das Parteimitglieder darauf verpflichten sollte jeden Parteitagsbeschluss, auch gegen die eigene Überzeugung, aktiv mit umsetzen zu müssen. Diese Haltung der Berliner Landesschiedskommission widerspricht offensichtlich Satzung und Selbstverständnis der Partei DIE LINKE. Sie wurde bisher weder vom Landesvorstand, einem anderen Gremium oder den zentralen Führungsfiguren der Partei in Frage gestellt.
Text der Bundesschiedskommission gibt SAV Recht
Die von der Bundesschiedskommission vorgelegte Begründung zu ihrer Entscheidung ist ein politischer Erfolg für die von Ausgrenzung betroffenen SAV"lerInnen. Denn die Entscheidung gegen eine Mitgliedschaft von Lucy Redler und Sascha Stanicic wird mit einem Argument begründet, das acht Monate lang in keinem eingereichten Dokument und keiner diesen Fall betreffenden Verhandlung eine Rolle gespielt hat – der Kandidatur der Rostocker SAV-Gruppe zu den dortigen Kommunalwahlen am 7. Juni 2009.
Alle anderen von Klaus Ernst vorgebrachten Anschuldigungen und die Argumentation der Landesschiedskommission werden explizit zurück gewiesen und die Argumente, die die SAV-Mitglieder in den letzten Wochen vorgebracht haben grundlegend bestätigt.
Das ist ein wichtiger inhaltlicher Erfolg, denn auf diesen Begründungstext werden sich marxistische Mitglieder bzw. Eintrittsgesuchende in der Zukunft beziehen können, sollte es weitere Ausgrenzungsversuche geben. In diesem Sinne hat sich der Widerstand gegen die Ausgrenzungsversuche und die starke Solidarität, sowie die vielen Meinungsäußerungen aus der Mitgliedschaft der Partei gelohnt.
Trotzdem konstruiert die Bundesschiedskommission einen Beschluss, der dem Ziel von Klaus Ernst entspricht: prominente KritikerInnen der Politik der Regierungsbeteiligung mit der pro-kapitalistischen SPD aus der Partei draußen zu halten. Ernst hatte in der Verhandlung der Bundesschiedskommission offene Worte gesprochen. Er warf Redler und Stanicic als „Kritiker“ in einen Topf mit Merkel und Westerwelle und sagte, dass Lucy Redlers Kritik in den Medien weniger Widerhall finde, wenn sie kein Parteimitglied sei. Darum ging es ihm: die inhaltlichen Positionen, die von Lucy Redler und der SAV vertreten werden – und nach Beschluss der Bundesschiedskommission und sogar nach eigener Aussage von Klaus Ernst einen legitimen Platz in der Partei haben – sollen öffentlich weniger wahrgenommen werden können.
Ob die Entscheidungsfindung der Bundesschiedskommission von einem juristischen Standpunkt betrachtet sauber ist, ist ebenfalls fraglich. Schließlich hatte sie über die Einsprüche gegen die Mitgliedschaft und die Beschlussfassung der Berliner Landesschiedskommission zu entscheiden, worin die Rostocker Verhältnisse überhaupt keine Rolle spielten.
Die SAV in Rostock
Die Bundesschiedskommission wirft Lucy Redler und Sascha Stanicic vor, dass sie eine Mitverantwortung an der Kandidatur der SAV-Gruppe Rostock zu den dortigen Kommunalwahlen am 7. Juni 2009 tragen.
Selbst wenn dem so wäre, steht dieses Argument in offensichtlichem Widerspruch zur Satzung der Partei. In §4, Absatz (2) d) heißt es, dass jedes Mitglied die Pflicht hat „bei Wahlen für Parlamente, kommunale Vertretungskörperschaften und sonstige Wahlämter nicht konkurrierend zur Partei anzutreten“. Das machen die Berliner SAV"lerInnen nicht. In der Satzung ist aus guten Gründen nicht die Rede von „Unterstützung“ oder „Neutralität“ gegenüber konkurrierenden Kandidaturen. Trotzdem interpretiert die Bundesschiedskommission die Satzung in dieser Frage in einer unzulässigen Art und Weise und schreibt: „Gegen das Verbot verstoßen nicht nur diejenigen, die persönlich oder auf einer Liste zur Wahl antreten, sondern auch alle, die an der Listenaufstellung verantwortlich mitgewirkt haben oder den Wahlkampf aktiv unterstützen.“ Diese Aussage ist durch die Satzung nicht gedeckt, sondern eine freie und nicht belastbare Interpretation des Satzungsparagraphen durch die Bundesschiedskommission. Ganz abgesehen davon trifft die Aussage auf Lucy Redler und Sascha Stanicic aber auch nicht zu.
Die Bundesschiedskommission geht aber sogar weiter und schreibt, dass Redler und Stanicic sich hätten spürbar dafür einsetzen müssen, den Konkurrenzantritt zu verhindern, was ebenfalls nicht durch die Satzung der Partei gedeckt ist.
Festzuhalten bleibt, dass die beiden SAV-Sprecher nicht gegen den entsprechenden Satzungsparagraphen verstoßen, da sie nicht konkurrierend gegen DIE LINKE kandidieren.
Darüber hinaus ist es absurd die Mitgliedschaft von Personen in Berlin, auch wenn sie als SprecherInnen der SAV eine überregionale Beachtung erfahren sollten, von spezifischen kommunalpolitischen Umständen in einer anderen Stadt abhängig zu machen. Jeder und jede weiß, dass auf kommunalpolitischer Ebene konkrete Widersprüche und auch Konkurrenzkandidaturen entstehen können, die nur lokalpolitisch zu erklären sind.
Wir erinnern in diesem Zusammenhang an die Tatsache, dass Gregor Gysi im Jahr 2001 als Führungsperson der damaligen PDS im Hamburger Bürgerschaftswahlkampf zur Wahl der Gruppe Regenbogen (für die Lucy Redler damals eine Kandidatin war) statt zur Wahl der Hamburger PDS aufgerufen hat.
Wir weisen auch darauf hin, dass es in vielen Kommunen linke Abgeordnete gibt, die nicht Mitglied der Partei DIE LINKE sind. Ziel der Partei sollte es sein, diesen ein Angebot für die Schaffung einer linken Einheit und konstruktiver Zusammenarbeit zu machen. In Rostock hat die dortige SAV-Gruppe, die bei den Kommunalwahlen im Jahr 2004 mit 2,3 Prozent ein Bürgerschaftsmandat gewann, am 15. September 2008 einen Brief an die Rostocker LINKE gerichtet und Gespräche über eine gemeinsame Kandidatur auf der Liste der LINKEn und einen damit verbundenen Eintritt der Rostocker SAV-Mitglieder in DIE LINKE vorgeschlagen. Die LINKE Rostock war nicht einmal zu Gesprächen bereit. In einer solchen Situation kann man nicht erwarten, dass eine parlamentarisch vertretene Gruppe ihre Verantwortung gegenüber ihren WählerInnen und UnterstützerInnen einfach ignoriert und sich freiwillig aus der Bürgerschaft begibt. Dies gilt umso mehr, wenn man sich die Bilanz der Arbeit der SAV-Abgeordneten, auch im Vergleich zur LINKE/ehemals PDS-Fraktion betrachtet. Ohne Übertreibung kann die SAV-Gruppe Rostock behaupten, dass sie in verschiedenen Fragen kommunalpolitischer Auseinandersetzungen die Kraft in der Bürgerschaft war, die sich gegen Kürzungen aussprach oder lokale Proteste aktiv unterstützte. Dementsprechend ist in einem Teil von linken und gewerkschaftlichen AktivistInnen in der Stadt die Erwartung groß, dass die SAV und ihre Abgeordnete Christine Lehnert diese Arbeit fortsetzen. Selbst Mitglieder der LINKEn wünschen der SAV, dass sie weiterhin in der Bürgerschaft vertreten ist (siehe dazu die SAV-Stellungnahme unter www.archiv.sozialismus.info/?p=13140 )!
Tatsache ist, dass Stanicic und Redler vor der Bundesschiedskommission deutlich gemacht haben, dass sie bereit sind, die SAV-Kandidatur in Rostock eben nicht öffentlich zu unterstützen, jedoch genauso wenig zu kritisieren, da sie der Überzeugung sind, dass die Rostocker LINKE die Verantwortung für die entstandene Situation trägt. Daraus konstruiert die Bundesschiedskommission nun eine Pflicht für Parteimitglieder, sich gegen die Rostocker SAV-Kandidatur auszusprechen. Diese Pflicht wiederum kann die Bundesschiedskommission nicht aus der Satzung der Partei herleiten. Es ist auch unsinnig zu behaupten, die SAV habe „anders als gegenüber der WASG – noch keinen einheitlichen Beschluss gefasst, nicht mehr konkurrierend zu Partei DIE LINKE anzutreten.“ Noch in einer Stellungnahme vom 8. Mai wurde auf www.archiv.sozialismus.info darauf hingewiesen, dass die SAV zur Wahl der LINKEn aufruft und Rostock eine Ausnahme darstellt.
Aus der Rostocker Ausnahmesituation leitet die Bundesschiedskommission ab, dass regionale SAV-Gruppen weiterhin von organisationspolitischen Nützlichkeitserwägungen abhängig machen werden, ob es zu ähnlichen Konkurrenzsituationen kommen wird. Das ist reine Spekulation. In keiner anderen Stadt gibt es eine vergleichbare Situation. In Aachen und Köln haben die im Jahr 2004 für linke kommunale Wahlbündnisse in die jeweiligen Stadträte gewählten SAV-Mitglieder sich in DIE LINKE eingegliedert und die Bündnisse haben sich entweder aufgelöst oder kandidieren in diesem Jahr nicht zu den Kommunalwahlen. Auch in Dresden kandidieren SAV-GenossInnen auf der Liste der LINKEn zur Kommunalwahl.
Abgesehen davon geht es der SAV in Rostock nicht um „organisationspolitische Nützlichkeitserwägungen“, sondern um die Erwägung, dass die SAV-Abgeordnete Christine Lehnert einen relativ größeren Beitrag zu sozialem Widerstand in der Stadt geleistet hat, als die Fraktion der PDS/LINKE in den letzten Jahren und eine Fortsetzung dieser Arbeit im Interesse der Bewegungen und sozial Benachteiligten ist.
Politisches Signal der Entscheidung
Die politische Dimension der Wirkung der Beschlussfassung bleibt bestehen. In der Partei stehen sich grundlegend zwei Richtungen gegenüber: eine im weiteren Sinne antikapitalistische Richtung, die die Aufgabe der Partei vor allem in der Unterstützung außerparlamentarischer Bewegungen sieht und eine Perspektive der Überwindung des Kapitalismus vertritt und eine auf Regierungsbeteiligung und Politik des kleineren Übels ausgerichtete Richtung, die zur Zeit die Bundestagsfraktion und die ostdeutschen Landesverbände dominiert. Eine Aufnahme hätte die antikapitalistische Richtung gestärkt und wäre auch ein Signal an andere linke und antikapitalistische AktivistInnen gewesen, die der Partei bisher nicht beigetreten sind, dass diese für linke KritikerInnen offen ist. Nun wurde das entgegen gesetzte Signal ausgegeben.
Aber gerade in Zeiten, in denen DIE LINKE verstärkt aus dem kapitalistischen Lager angegriffen wird und prominente VertreterInnen des moderaten Parteiflügels die Partei verlassen (Wechselberg) oder gar zur SPD übertreten (Kaufmann), ist es von großer Bedeutung, dass eine größtmögliche Einheit der linken und antikapitalistischen Kräfte durch die Partei erreicht wird.
All dies ist angesichts der tiefen kapitalistischen Weltkrise, der fallenden Umfragewerte für DIE LINKE und des noch viel zu schwachen gesellschaftlichen Widerstands gegen Entlassungen, Betriebsschließungen, Rettungspakete im Interesse der Banken und Konzerne und einer anstehenden Agenda 2020 zu betrachten. Die Führung der LINKEn zeigt sich nicht in der Lage eine passende Antwort auf die kapitalistische Krise zu formulieren. Sie will Arzt am Krankenbett des Kapitalismus sein, statt die Rolle des Totengräbers einzunehmen. Darum geht letztlich die Auseinandersetzung und SAV-GenossInnen sollen aus dieser Auseinandersetzung fern gehalten werden.
Das wird Klaus Ernst und seinen Freunden jedoch nicht gelingen. SAV-GenossInnen werden bundesweit weiterhin solidarisch, kritisch und loyal in der Partei DIE LINKE mitarbeiten und sich für einen konsequenten und kämpferischen sozialistischen Kurs einsetzen. Lucy Redler, Sascha Stanicic und ggf. weitere Berliner SAV"lerInnen , die aus der Partei fern gehalten werden sollen, werden ebenso einen Beitrag zum Aufbau gesellschaftlichen Widerstands gegen das Abwälzen der Krisenfolgen auf die Massen und für eine starke sozialistische Massenpartei leisten.