Afghanistan, Islam und die revolutionäre Linke

Von Peter Taaffe, Committee for a Workers“ International (CWI)

1) Krieg ist eine Nagelprobe für Programm, Perspektiven, Strategie und Taktik aller politischen Formationen – besonders für jene der Linken. Es muss aufgezeigt werden, was positiv ist, was die ArbeiterInnenklasse vorwärts bringt. Umgekehrt entblößt sich alles, was faul und falsch ist. Das war so im Golfkrieg, im Kosova/o-Konflikt und nun auch im Afghanistankrieg.

2) Die Taliban und Osama bin-Ladins al-Qa`ida erlitten eine schwere militärische und politische Niederlage. Das Ausmaß ihrer Niederlage ist durch die Tatsache vergrößert worden, dass es am Boden praktisch keinen Widerstand gegen die Imperialisten und die Nordallianz gegeben hat. Das haben wir bereits in vorhergehenden CWI-Stellungnahmen so analysiert und wollen hier die Positionen des CWI und seiner Sektionen mit denen anderer Organisationen vergleichen, vor allem jener, die beanspruchen, der revolutionären Linken anzugehören. Dieser Zugang, die Methode der Gegenüberstellung, wurde von Leo Trotzki verwendet; vor allem in den dreißiger Jahren, um revolutionäre Kader zu schulen. Die meisten der revolutionären Linken irrten sich während des Krieges, und das manchmal ganz gewaltig. Manche waren opportunistisch; die meisten jedoch waren ultra-links und schafften es manchmal auch, beides zu kombinieren: Opportunismus mit Ultralinkem.

MISSBRAUCH VON TROTZKIS SCHRIFTEN

3) Das theoretische Unterfutter der Positionen während des Krieges mancher dieser Organisationen besteht, laut ihnen und ironischerweise, aus Kommentaren von Trotzki vor allem in den dreißiger Jahren zu Kriegen und bewaffneten Konflikten. Ein marxistischer Zugang besteht für sie hauptsächlich darin, auswendig Phrasen von Trotzki aufzusagen. Seine fragmentarischen und nicht entwickelten Kommentare, vor allem jene in Bezug auf Brasilien, Äthiopien und den Japan-China-Krieg in den dreißiger Jahren, werden als Rechtfertigung für ihre Argumente verwendet. Trotzkis Schriften werden dabei verwendet, ohne deren Geist und deren Methode zu verstehen. Und überhaupt ignorieren sie den historischen Kontext völlig, in welchem diese Äußerungen gemacht wurden.

4) Vielleicht den zukünftigen Missbrauch seiner Schriften vorausahnend, meinte Trotzki passender weise in Bezug auf den Japan-China Krieg in den Dreißigern: „Wirklicher Internationalismus besteht nicht aus dem Wiederholen stereotyper Phrasen bei jeder Gelegenheit, sondern daraus, über die spezifischen Umstände und Probleme nachzudenken“ – vor allem über jene, die bei Kriegen und Revolutionen aufkommen, könnte hinzugefügt werden. Das wichtigste Gesetz der Dialektik ist, dass die Wahrheit immer konkret ist. Eine umfassendende Analyse beinhaltet das Verständnis der spezifischen Umstände, vor allem des historischen Hintergrunds eines Krieges und die involvierten objektiven Faktoren, welche für uns auch das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse, sowohl in der neokolonialen als auch der industrialisierten Welt, einschließen.

5) Seitdem Trotzki das geschrieben hat, unterlag die Welt ernormen Veränderungen. Die Realität, mit der wir heute konfrontiert sind, hat sich stark verändert. Deswegen wäre es vollkommen mechanisch, Äußerungen, die in den Dreißigern gemacht wurden, einfach auf die aktuelle Situation umzulegen. Die internationalen Beziehungen und vor allem das Verhältnis zwischen den sogenannten „entwickelten“ Ländern und der neokolonialen Welt haben große Veränderungen durchgemacht. In der Vergangenheit übte der Imperialismus direkte militärische Herrschaft über viele (aber nicht alle) Gebiete aus, die wir heute als neokoloniale Welt bezeichnen. Großteils wurde dies durch indirekte ökonomische Kontrolle ersetzt. Zweifellos sind deswegen die Auswirkungen im allgemeinen nicht weniger unterdrückend für die Massen. Trotzdem hat sich die Lage durch die Unabhängigkeit der früheren „Kolonien“, der Entwicklung neuer Staaten und damit neuem Nationalbewusstsein, und außerdem der relativen Erstarkung dieser Regionen gegenüber dem Imperialismus entscheidend geändert.

6) MarxistInnen müssen der weiterbestehenden imperialistischen Herrschaft und dem widerlichen Gebrauch militärischer Gewalt, um die Macht gegenüber den Massen der neokolonialen Welt aufrechtzuerhalten, unversöhnlich entgegentreten – so wie im Falle Afghanistans. Die grundlegenden Veränderungen, die stattgefunden haben, bedeuten aber, dass es zum Beispiel lächerlich ist, das Regime des „Kaisers“ von Äthiopien, Haile Selassie, von 1935 mit dem Phänomen der al-Qa’ida von bin-Ladin und den Taliban gleichzusetzen. Die ernorme Entwicklung der Kommunikationsmittel wie Fernsehen, Radio, Zeitungen, Internet, etc. ist ein Unterschied, der am offensichtlichsten ist. Infolgedessen gibt es ein erhöhtes Bewusstsein, was international passiert.

7) Die Massen in den 1930er hätten wenig von den einzelnen Details des Selassie-Regimes verstanden. Darüber hinaus wurde in der Zeit, in der Trotzki schrieb, Äthiopien vom faschistischen Regime des Benito Mussolini angegriffen. Wenn man die damaligen Illusionen in die bürgerliche Demokratie, in denen die europäische oder besonders der US-ArbeiterInnenklasse verhaftet war, berücksichtigt, und außerdem die noch frischen blutigen Erfahrungen mit dem, was faschistische Machtübernahme durch Hitler oder Mussolini bedeutet, ist die Sympathie, die die Massen in den 30er gegenüber Äthiopien im Kampf gegen das faschistische Italien hegten, nachzuvollziehen. Die britische, fast die gesamte europäische Bourgeoisie und auch die der USA, setzten genauso auf die Karte Äthiopiens, aufgrund ihrer eigenen imperialistischen strategischen Interessen. Es ist jedoch Unsinn, so wie das sektiererische Organisationen durch ihre Art, Trotzki zu zitieren tun, daraus zu schließen, dass die Masse der Bevölkerung der Industriestaaten dieselbe Haltung gegenüber bin-Ladin und den Taliban entwickeln könnte.

BEWUSSTSEIN

8) Das heißt nicht, dass wir die vergangenen Positionen des Marxismus, im speziellen jene, die von Lenin und Trotzki sorgfältig ausgearbeitet wurden, über Bord werfen müssen. Wir differenzieren klar zwischen den entwickelten imperialistischen Ländern und jenen der kolonialen und neo-kolonialen Welt. Generell unterstützen wir weiterhin den Kampf der Völker in der neokolonialen Welt gegen imperialistische Dominanz, vor allem wenn diese die Form einer militärischen Intervention annimmt, wie im Krieg gegen Afghanistan. In dieser Frage waren wir voll auf der Seite des afghanischen Volkes und in den imperialistischen Staaten sind wir gegen den Krieg aufgetreten. Unterstützung des afghanischen Volkes und dessen Widerstand gegen die bewaffneten Einsätze des Imperialismus ist nicht dasselbe wie die Unterstützung der Taliban, auch dann nicht, wenn sie als „kritisch“ bezeichnet wird, so wie das manche linke Gruppen getan haben.

9) Außerdem ist der bloße plumpe Aufruf „Niederlage dem US-Imperialismus und seinen Verbündeten!“ als Slogan für die Agitation nach außen ungeeignet. Wie Trotzki später erklärte, hat Lenin die Bezeichnung „revolutionärer Defätismus“ (gemeint ist damit die ablehnende unversöhnliche und sabotierende Position gegenüber dem „eigenen“ Land, d.h. der „eigenen“ kriegsführenden Bourgeoisie im Ersten Weltkrieg; zusammengefasst auch „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“, Anm. d. Ü.) verwendet, um eine klare Abgrenzung zwischen revolutionärem Marxismus und Opportunismus zu schaffen. Dies geschah vor dem Hintergrund des Verrats der deutschen Sozialdemokratie und deren internationalen Theoretikern am Beginn des 1. Weltkriegs. Primär war es eine Methode für die Kader selber, um eine Trennlinie zwischen RevolutionärInnen und OpportunistInnen zu machen. Es war aber niemals eine Politik, mit der man die Massen für das Banner des Bolschewismus hätte gewinnen können. Es war das Programm der Bolschewiki und alles, was Ausfluss aus diesem war, inklusive der Machtergreifung der ArbeiterInnenklasse gemeinsam mit der BäuerInnenschaft, das die russische Revolution gewährleistete.

10) Viele ultra-linke Organisationen sind von Grund auf unfähig, den Zugang Lenins, Trotzkis und der Bolschewiki zu verstehen. Sie nehmen Formulierungen heraus, die innerhalb der marxistischen Bewegung gemacht wurden, um verschiedene Konzepte zusammenzufassen bzw. um eine Idee von einer anderen klar abzugrenzen, um sie dann als Ausdruck zu verwenden, der an die Öffentlichkeit gerichtet ist. Konsequenterweise haben sie es damit nicht geschafft, über ihre Zirkelmentalität hinauszukommen und erfolgreich in Massenbewegungen zu intervenieren. Schlimmer jedoch ist, dass sie eine Schicht von jungen Menschen und gelegentlich ArbeiterInnen falsch erzogen haben, die ansonsten eine wichtige Rolle spielen könnten, den Marxismus zu stärken und aufzubauen.

11) Die Frage, wie wir uns auf das Bewusstsein, das in der industriellen Welt verglichen mit der neokolonialen Welt unterschiedlich sein kann, beziehen und dabei prinzipiell eine marxistische Position aufrechterhalten, ist eine Schlüsselfrage, die uns den Weg zur ArbeiterInnenklasse und Jugend öffnet. Das ist keine leichte Aufgabe; eine richtige Position kann nur durch Analyse, Diskussion und manchmal auch nur auf sehr mühevolle Weise erreicht werden. Warum auch immer, dieser Zugang ist manchen Organisationen der revolutionären Linken fremd. Für sie ist es hauptsächlich eine Frage, wie ein „Programm“ präsentiert wird, das sie sich meistens aus den Fingern saugen oder das aus den Schriften von Lenin und Trotzki aus einer anderen Periode herausgezogen wird, um dann mechanisch auf die Situation umgelegt zu werden, ohne Rücksicht auf das Auf und Ab in der Bevölkerung, dass sich in Stimmung und Verständnis der Massen niederschlägt.

12) Das war nicht der Zugang Lenins, Trotzkis und der Bolschewiki in der russischen Revolution. Die Stimmung innerhalb der Massen war eine brennende Frage, die in den neun Monate zwischen Februar und der Oktober-Revolution entscheidend die entsprechende Taktik zu verschiedenen Wendepunkten beeinflusst hat. Zum Beispiel war Lenin gegen eine Machtergreifung durch die Petrograder ArbeiterInnenklasse, die zu diesem Schritt bereit waren, weil es zu früh war. Das ergab sich daraus, dass zu diesem Zeitpunkt das Bewusstsein im restlichen Russland und besonders unter den bäuerlichen Massen, die den Großteil der Armee des Zaren ausmachten, hinter den Petrograd zurücklag. Ein ernsthafter Versuch, die Macht zu ergreifen, hätte das Risiko der Niederschlagung der Petrograder ArbeiterInnenklasse bedeutet. Die Vorhut der Revolution wäre damit geschlagen gewesen und damit die gesamte Revolution komplett durcheinander gebracht worden. In diesem Fall hat die Entscheidung der Bolschewiki, mit den Demonstrationen weiterzumachen, aber knapp vor dem Aufstand aufzuhören, die Repression vermindert, was unübersehbar in die Juli-Ereignisse gemündet hat. Die ähnliche Sorgfalt, die Stimmung innerhalb der Bevölkerung auszuloten, war drei Monate vor der russischen Revolution eine Schlüsselfrage, die innerhalb der Bolschewiki heftig diskutiert wurde.

13) Wir haben immer schon das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse berücksichtigt, wenn wir Forderungen aufgestellt und die Herangehensweise zu Themen wie Krieg entwickelt haben; was keine statische Angelegenheit ist. Das ist keine leichte Aufgabe, und auch in einer gesunden marxistischen Organisation kann dies zu Kontroversen und Differenzen führen.

DER GOLFKRIEG UND DER 11. SEPTEMBER

14) Im Golfkrieg nahmen in der ersten Phase viele die Position ein, Saddam Hussein bei der Intervention in Kuwait „kritisch“ zu unterstützen. In diesem Krieg waren wir auf der Seite der Bevölkerung des Nahen Ostens: Irakis, KurdInnen, und anderen gegen die bewaffnete Intervention der USA, die zunehmend brutaler wurde. Das Bewusstsein in den Industriestaaten war gegenüber dem in den arabischen Staaten jedoch unterschiedlich, sodass unsere Unterstützung nicht die Form einer Unterstützung des Regimes von Saddam Hussein annahm. Wir traten unverrückbar gegen die USA, Britannien und deren Verbündete auf, die Krieg gegen den Irak führten. Wir forderten das Ende des Krieges, den Abzug der Truppen und strichen die Forderung hervor, dass das irakische Volk, die KurdInnen und selbst die Kuwaitis ihr Schicksal selbst bestimmen sollen.

15) Wenn unsere SprecherInnen nach außen damals im Radio oder Fernsehen mit der Frage: „Seit ihr nicht für den Abzug der irakischen Truppen, die in Kuwait gegen den Wunsch der Bevölkerung dieses Staates eingegriffen haben?“ herausgefordert wurden, konnten wir nicht ungeschickt antworten. Meistens war unsere Antwort damals: „Ja, aber nicht durch US-Truppen, sondern durch einen erfolgreichen Aufstand der ArbeiterInnen und BäuerInnen im Irak gegen Saddam Hussein, der den Abzug bewirkt und der Bevölkerung der Region die Möglichkeit gibt, über ihr Schicksal demokratisch zu entscheiden. Das war die einzige Möglichkeit, an eine solche Frage in den Industriestaaten heranzugehen, angesichts der widerlich undemokratischen und offensichtlich diktatorischen Züge des Saddam-Regimes, nicht zuletzt wegen der Unterdrückung der KurdInnen im Norden und der ShiitInnen im Süden. Wir konnten nicht für Saddam Hussein, sein Regime und seine Handlungen während des Golfkriegs die Verantwortung übernehmen. Wir trachteten danach, das von unserer offenen Unterstützung der irakischen Bevölkerung und anderen Völkern dieser Region und deren Widerstand, den sie gegen den imperialistischen „Ölkrieg“ aufbrachten, zu trennen.

16) Gleichzeitig war es aufgrund der verschiedenen Blickwinkel auf den Golfkonflikt notwendig, dass revolutionäre MarxistInnen, die in der neokolonialen Welt andere Aufgaben zu erfüllen hatten, Dinge anders als in den entwickelten Industriestaaten nach vorne stellen mussten. Es gab innerhalb der Sektionen des CWI eine gemeinsame Position für alle Mitglieder, ungeachtet dessen, in welcher Sphäre der Welt sie daran arbeiteten, der Opposition und dem Kampf gegen die Attacken des Imperialismus auf den Irak Ausdruck zu verleihen. In der neokolonialen Welt bedeutete das, trotz der Ablehnung der diktatorischen Züge des Regimes von Saddam Hussein, die Feindseligkeit gegenüber dem Imperialismus, dass dort eine größere Sympathie nach dem Motto „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ für den Irak herrschte.

17) Das wurde enorm dadurch erhöht, dass in der arabischen Welt Saddams Handlungen nicht nur als ein Schlag gegen den Imperialismus, sondern auch als ein Schlag gegen seine lokalen Verbündeten, wie der herrschenden Klasse in Israel, gesehen wurde. Außerdem fand die Rechtfertigung Saddams für den Angriff auf Kuwait, ein Vermächtnis der künstlichen Balkanisierung der arabischen Halbinsel durch den Imperialismus, einen bestimmten Widerhall. Das führte zweifellos dazu, dass Unmutsgefühle gegenüber den arabischen Diktaturen im Bewusstsein der Massen in den Hintergrund gerückt sind. Es gab im gewissem Sinn eine „kritische Unterstützung“ für Saddam, weil er dem Imperialismus einen Schlag zu versetzen schien. Beispielsweise wurden Raketen von irakischem Territorium abgeschossen, die in Israel einschlugen. Das war das Gegenteil von dem, was normalerweise im Nahen Osten passiert, wenn Israel mit seiner überlegenen Militärmaschinerie palästinensische Gebiete und arabische Ziele zerstört.

18) Die Propaganda, die agitatorischen Forderungen, die in dieser Situation aufgeworfen würden, wären anders als die Art, in der MarxistInnen in den entwickelten Industriestaaten herangehen würden. Dennoch wäre es sogar in der neokolonialen Welt, einschließlich dem Nahen Osten falsch, Saddam, der von den arabischen Massen als „progressiver Diktator“ gesehen wurde, unqualifizierte Unterstützung zu geben. Schlimmer wäre es, dasselbe im Fall von bin-Ladin und den Taliban zu tun, die nicht einmal als „kapitalistisch“ beschrieben werden können. Wenn irgendwas, dann sind sie feudal oder stammesgesellschaftlich in ihrem Auftreten, Programm und wahnsinnigen Plänen für die Welt. Trotz allem gab es eine etwas andere Haltung verglichen mit Europa, Japan und den USA gegenüber den Anschlägen auf die Zwillingstürme, die in der neokolonialen Welt zum Vorschein kam. Sogar in ein paar industrialisierten Staaten wie Griechenland, aufgrund dessen Vergangenheit und seiner Position zwischen industrialisierter und neokolonialen Welt, war die Haltung gegenüber dem 11. September anders.

HALTUNG ZUR US-ARBEITERiNNENKLASSE

19) Das Bedauern über den Verlust unschuldiger Menschenleben ging Hand in Hand mit dem Gefühl, dass sich die herrschende Klasse der USA „es sich selbst zuzuschreiben hat”. Als MarxistInnen verstehen wir die Gründe dafür, die Unterdrückung und die enorme Ausbeutung der Massen in der neokolonialen Welt, aber wir lehnen diese Haltung ab. Wir müssen uns noch mal der Tatsache bewusst werden, dass es nicht die US-KapitalistInnen waren, die die Mehrheit der Opfer des 11. September ausmachten. Es waren hauptsächlich ArbeiterInnen und Angehörige der Mittelschicht, die ums Leben kamen. Unsere GenossInnen in den neokolonialen Ländern müssen der Meinung entgegentreten, die unter Teilen der afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen ArbeiterInnenklasse und Landbevölkerung herrscht, dass die US Bevölkerung eine einzige reaktionäre Masse sei, dass dort keine ArbeiterInnenklasse existiert oder sogar Komplizin des weltweiten US Imperialismus wäre. Der Terrorakt vom 11. September hat dem US-Imperialismus den Vorwand geliefert, in Afghanistan zu wüten, eine Invasion in den Irak vorzubereiten und die beschädigte Macht und das Prestige, mit der Hilfe – zumindest zu Beginn – der Mehrheit der US Bevölkerung wiederherzustellen.

20) MarxistInnen haben in diesem Krieg nicht das eine Programm für das eine Land oder die Gegend und ein unterschiedliches in einem anderen. In Großbritannien, Europa, den USA und in Afghanistan treten wir gegen diesen Krieg auf. Natürlich ist es in Afghanistan notwendig, sich den Angriffen des Imperialismus zu widersetzen. Der Widerstand der ArbeiterInnen und der Landbevölkerung wäre ein anderer und getrennt von dem der Taliban; er wäre sogar gegen sie. Aufgrund des unterschiedlichen Bewusstseins in verschiedenen Ländern kann der Zugang und die Art der Propaganda unterschiedlich sein.

21) Nach den Angriffen auf die Twin-Towers hat der Imperialismus die Angst der US Bevölkerung vor bin-Ladin und al-Qa’ida geschürt. Sie dachten, dass diese Organisation ihre Existenz bedroht. Dieses Gefühl wurde verstärkt, nachdem bin-Ladin einem pakistanischen Journalisten ein Interview gegeben hat, dass während dem Krieg in der westlichen Presse abgedruckt wurde. In dem Interview beschuldigte er die gesamte US Bevölkerung, für die Verbrechen der herrschenden Klasse verantwortlich zu sein. „Wie immer hat er [bin-Ladin] die Verantwortung für die Flugzeugentführungen am 11. September geleugnet, und er hat sie wiederum nicht geleugnet, weil er gesagt hat, dass alle AmerikanerInnen für die „Massaker“ an Moslems in „Palästina, Tschetschenien, Kaschmir und im Irak“ verantwortlich seien und dass Moslems „das Recht hätten aus Vergeltung anzugreifen“. „Das amerikanische Volk sollte sich erinnern, dass es seiner Regierung Steuern zahlt, seinen Präsidenten wählt, seine Regierung Waffen produziert und sie dann an Israel weitergibt, Israel verwendet diese Waffen, um PalästinenserInnen zu massakrieren. Der amerikanische Kongress stimmt allen Regierungsmaßnahmen zu und das beweißt, dass ganz Amerika schuld ist.““ [The Observer, 11. November 2001]

22) Bin-Ladin und die al-Qa’ida wurden von Bush und Co. als tödliche Bedrohung für die Existenz der USA dargestellt. Doch bloße bürgerliche Propaganda allein reicht nicht aus, um die öffentliche Meinung herzustellen. Die Worte und Taten von bin-Ladin und der al-Qa’ida bestärkten die Meinung in der US Bevölkerung, dass sie tatsächlich eine solche Bedrohung darstellen. Daraus folgte während dem Krieg eine Welle des Patriotismus. Wie wir vorhergesehen haben, wurden nach dem Krieg die US Außenpolitik und die Rolle der US Regierung (und natürlich implizit die Rolle der US Kapitalisten) vermehrt in Frage gestellt, sie könnten doch die Umstände geschaffen haben, die zur Katastrophe am 11. September geführt hat. Ohne Zweifel wird die kritische Stimmung wachsen; für die al-Qa’ida oder den „Binladismus’ gibt es keine Sympathie oder Unterstützung. Sie werden als ein schreckliches und furchterregendes Resultat der US Politik in der neokolonialen Welt gesehen.

23) Dennoch versuchen die kleinen ultralinken Gruppen uns zu überzeugen, dass MarxistInnen während des Krieges eine „kritische Unterstützung”, inklusive gemeinsamer Militäroperationen, für al-Qa’ida und die Taliban aussprechen sollten, um dem US-Imperialismus entgegenzutreten. Sie mögen vielleicht sagen, dass diese Politik in der neokolonialen Welt angewendet werden muss. Doch diese Ideen werden in ihren Magazinen angeboten, die vor allem in den fortgeschrittenen industrialisierten Ländern verkauft werden. Abgesehen davon ist es, von einem marxistischen Standpunkt aus, auch in der neokolonialen Welt falsch. Das ist kein Programm für die Massen, nicht um ArbeiterInnen zu erreichen und sie von den Ideen des Marxismus zu überzeugen, sondern um sie vom Trotzkismus wegzuleiten. Es ist ein Programm für den kleinen (oftmals winzigen) Konferenzraum und keines, mit dem ArbeiterInnen angesprochen und überzeugt werden können.

KRIEG UND MARXISMUS

24) Heute ist nicht die Wiederholung der Ideen notwendig, die zu den Bedingungen vor 60 oder sogar 20 Jahren gepasst haben. Die Entwicklung unabhängiger Staaten und nationaler bürgerlicher Regimes hat sich wesentlich verändert, seit Trotzki darüber geschrieben hat. Manche von ihnen, wie das von Saddam Hussein, haben die scheußlichsten und abstoßendsten Eigenschaften von Diktaturen. Sie unterdrücken die ArbeiterInnenklasse und verweigern nationale und ethnische Rechte. Das hat die Umstände, in denen MarxistInnen arbeiten, extrem verändert. Das heißt, wir können den Zugang Trotzkis in der Zeit des chinesisch/japanischen Kriegs in den 1930er Jahren oder in Äthiopien 1935 nicht einfach imitieren oder uns selbst in die hypothetische Situation versetzen, die Trotzki für Brasilien beschrieben hat. Wir werden ein wenig später auf diese Punkte weiter eingehen, denn sie stehen in Beziehung zu unserem Zugang zum Krieg, speziell zum Krieg gegen Afghanistan und zu unserem Zugang zum Islam im allgemeinen.

25) Der Marxismus hat keine allgemein gültige Position zu Kriegen. Wir haben niemals alle Kriege in einem Atemzug genannt. Es gibt „gerechte“ Kriege, in denen MarxistInnen und TrotzkistInnen die eine Seite gegenüber der anderen kritisch unterstützen. Karl Marx und Friedrich Engels haben den revolutionären Kampf der IrInnen gegen den britischen Imperialismus im 19. Jahrhundert genauso unterstützt, wie den Kampf der PoIInnen gegen den russischen Zaren. Und das trotz der Tatsache, um es in den Worten Trotzkis zu sagen: „Diese beiden nationalistischen Kriege und deren Führer waren zu großteils Teile der Bourgeoisie und in Zeiten der feudalen Aristokratie … zu allen Zeitpunkten katholische Reaktionäre.“ Wir selbst haben die Nationale Befreiungsfront (FLN) im nationalen Krieg gegen den französischen Imperialismus in Algerien, der mit der Befreiung Algeriens und dem Abzug der französischen Truppen 1962 geendet hatte, sowohl politisch als auch materiell unterstützt.

26) Doch es gab nichts „fortschrittliches” oder „gerechtes” an dem brutalen Krieg der US, Britanniens und der „Koalition“, den sie gegen das afghanische Volk geführt haben und als „Krieg gegen den Terrorismus“ verkaufen wollten. Die „Kriegsziele“ von der Vernichtung bin-Ladins und der al-Qa’ida konnten bis jetzt nicht erreicht werden. Unsere Position wurde im CWI Material zu diesem Krieg ausführlich erklärt. Dieser Krieg diente vor allem dazu, das verletzte Prestige und die Macht der USA und des Weltimperialismus wieder herzustellen. Durch die Kapitulation der Taliban (wenn nicht der „arabischen Afghanen“) hat der Imperialismus seine Position kurzfristig stärken können und die Kräfteverhältnisse der Welt zu seinen Gunsten verschieben können. Das wurde durch die kriegerischen Worte und Taten von George W. Bush und Donald Rumsfeld gezeigt. Und auch dadurch, dass der „friedliche“ Colin Powell Ariel Sharon und der herrschenden Klasse Israels Grünes Licht gegeben hat, um die Offensive gegen das palästinensische Volk zu starten. Das Ziel dahinter war, die ohnehin schon brüchige Autorität von Yasser Arafat und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) zu schwächen. [Siehe dazu frühere CWI-Dokumente über den Nahen Osten]

27) Danach kam es zu den Aussagen von US-Regierungssprechern, wonach der Irak das nächste Ziel sei und Spezialeinheiten in Einsätzen gegen Somalia und möglicherweise den Sudan in Vorbereitung seien. Der Krieg soll die Wurzeln der al-Qa’ida ausreißen und sie möglicherweise für alle Zeiten zerstören. In der blutigen Gleichung des Kriegs ist es nicht möglich, den genauen Ausgang vorherzusagen. Der Ausgang des militärischen Konflikts zwischen dem US-Imperialismus, der mächtigsten Militärmacht der Welt und den schwachen Taliban, war von Beginn an wie ein Wettkampf zwischen einem Elefanten und einer Fliege, den der Elefant nicht verlieren kann. Was nicht vorherbestimmt werden konnte, war, welche Art von sozialen Reserven die Taliban aufgrund der ausländischen Intervention in Afghanistan mobilisieren können. Die Ereignisse zeigten die schwache Basis für das Regime, die den Sieg des Imperialismus sicherte. Der US Imperialismus wendete vor allem Luftangriffe an, die durch „Bodentruppen“ unterstützt wurden.

28) Doch von niemandem wurde erwartet, dass die Taliban im Norden derart schnell kapitulieren und im Süden so wenig Widerstand zeigen würden. Das zog wichtige Konsequenzen nach sich. Der Sieg des Imperialismus kombiniert mit der vollständigen Kapitulation der Taliban ohne wirklich zu kämpfen, hatte einen großen weltweiten Effekt, vor allem auf die neokoloniale Welt. Es wird nun wahrgenommen, dass der US-Imperialismus einen weiteren Sieg erringen konnte. Das ist der dritte militärische Sieg innerhalb von etwas mehr als einem Jahrzehnt – Golfkrieg, Kosova/o und nun Afghanistan. Mehr als in den zwei vorangegangenen Konflikten ist das Triumphgeheul des US-Imperialismus laut und zügellos, wobei einer seiner Repräsentanten offen erklärte: „Jetzt hält uns nichts mehr auf.“

29) Fälschlicherweise glaubt der Imperialismus jetzt, dass er seine Macht überall auf dem Erdball bei minimalem Widerstand durchsetzen kann. Letztendlich werden aber seine Probleme nur verstärkt. Der Imperialismus hat sich zweifellos stärken können, während das Selbstvertrauen der weltweiten ArbeiterInnenklasse und der ArbeiterInnenbewegung, vor allem in der neokolonialen Welt, einen schweren Rückschlag hinnehmen musste. Zu diesem Zeitpunkt kann nicht gesagt werden, wie langfristig und schwerwiegend dieser Rückschlag ist. Augrund all dieser Gründe treten wir entschlossen gegen den US-Imperialismus und diesen Krieg auf. Wir müssen all die „demokratischen“ Phrasen und Tarnungen als solche erkennen, es handelte sich um eine neue Version eines imperialistischen Kriegs, nicht nur gegen Afghanistan, sondern gegen die ganze neokoloniale Welt, und daher gegen die Mehrheit der Menschheit.

weiter zum zweiten Teil