Vom Protest gegen die Bauzaun-Errichtung zum Protest gegen den Abriss
Wie bereits berichtet, wurde in der Nacht von Freitag auf Samstag ein Bauzaun um den Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs errichtet. Bisher wurden noch keine Abrissarbeiten begonnen. Da nach der Besetzung des Nordflügels am 26. Juli die Fenster zugenagelt wurden, sieht man von außen nicht, was im Innern möglicherweise passiert. Nach Gerüchten soll der Abriss Mitte August beginnen.
von Wolfram Klein, Stuttgart
Am frühen morgen des Dienstag wurde ein weiterer Bauzaun auf dem Gelände des ehemaligen Zentralen Omnibusbahnhofs (der seit einigen Monaten auf zwei Provisorien in Vororten von Stuttgart verteilt ist) errichtet. Der Bauzaun am Nordflügel wurde inzwischen von den Stuttgart-21-GegnerInnen in eine Infowand voller Plakate, Zettel etc. verwandelt, mit Infos über den Protest und wenig schmeichelhaften Kommentaren zu Stuttgart 21 (z.B. wird die geplante Bahnhofzerstörung mit der Zerstörung der afghanischen Buddha-Statuen durch die Taliban verglichen).
Massenproteste
Von Freitag bis Sonntag gab es jeden Abend Proteste von mehreren Tausend Menschen (und einen etwas kleineren Protest mit etwa zweitausend Menschen am Samstag Mittag) mit Spontandemos und Straßenblockaden. Die Menschen zogen durch die Innenstadt, gingen ins Rathaus, vor den Landtag – wen interessiert eine Bannmeile?
Am Montag gab es die 37. und bisher mit 6.000 TeilnehmerInnen (trotz teilweise strömendem Regens) größte Montagsdemo gegen Stuttgart 21. Im Anschluss an die Kundgebung gab es einen Demonstrationszug zum Amtssitz von Stuttgart-21-Projektleiter Hany Azer. Dort wurde die Demonstration offiziell aufgelöst. Also gab es eine Spontandemonstration zurück zum Bahnhof. Dort entwickelte sich nach wenigen Minuten eine Straßenblockade und bald zog ein Demonstrationszug mit gut Tausend TeilnehmerInnen über die Theodor-Heuss-Straße, weiter zum Schlossplatz und über die Königsstraße (Fußgängerzone, sonst für Demonstrationen tabu), durchs Bahnhofsgebäude zurück zum Nordausgang.
Bei dieser Spontandemo und teilweise schon am Wochenende spielte die „Jugendoffensive gegen Stuttgart 21“ eine wichtige Rolle und half wesentlich mit, dass sie eine laute, kämpferische Massenaktion mit politischen Parolen war.
Am Mittwoch waren erneut weit über Tausend Menschen vor dem HBF-Nordflügel. Um 19.00 Uhr gab es einen „Schwabenstreich“ (seit 28. Juli machen auf Initiative des Schauspielers Walter Sittler und des Regisseurs Volker Lösch AktivistInnen jeden Tag um 19.00 Uhr einen „Schwabenstreich“, das heißt sie machen eine Minute lang Lärm). Dann blieben Hunderte Menschen eine Stunde lang am Nordausgang, studierten die Infowand (alias Bauzaun), unterhielten sich mit einander, bis um 20 Uhr eine Veranstaltung begann: prominente Architekten, Denkmalschützer, der ehemalige Chef des Stuttgarter Hauptbahnhofs referierten über die architektonischen und sonstigen Qualitäten des jetzigen Hauptbahnhofs. Stuttgart dürfte gegenwärtig die einzige Stadt weltweit sein, in der so ein Thema Tausende von Menschen anzieht. Der Ablauf der Veranstaltung war aber nicht so „bildungsbürgerlich“, wie es seine Thematik vielleicht erwarten ließ. Die Statements wurden immer wieder durch Pfeifkonzerte, Beifallsstürme oder Sprechchöre unterbrochen, je nachdem, ob die Redner die Abrisspläne erwähnten oder bekräftigten, dass man den Abriss verhindern werde, ob sie über den Neubau der Landesbank Baden-Württemberg neben dem Bahnhof und den geplanten neuen Bahnhof und seine Macher herzogen oder den jetzigen Bahnhof lobten
Für Samstag (7. August) um 19.00 Uhr ist eine erneute Massendemonstration angekündigt. Diese Massenproteste waren und sind ungeheuer wichtig. Sie haben bewirkt, dass die Errichtung des Bauzauns nicht etwa zu Demoralisierung geführt hat, sondern das Selbstbewusstsein, die Entschlossenheit und die Bereitschaft zu zivilem Ungehorsam bei Tausenden AktivistInnen weiter gestiegen sind.
Ständig zusätzliche Argumente
Dazu kommt, dass immer wieder neue Fakten die Kritiker bestätigen:
Diese Woche wurde bekannt, dass Finanzbürgermeister Föll Mitglied in dem im Juli gebildeten Beirat der Baufirma „Wolff & Müller“ ist, derselben Firma, die den Zuschlag für den Abriss des HBF-Nordflügels erhielt. Das bestätigt einmal mehr, dass Stuttgart 21 von einer Mafia aus Politikern und von dem Projekt profitierenden Unternehmen vorangetrieben wird.
Das „Handelsblatt“ berichtete am Dienstag, dass der Bund aus Geldmangel bis auf Weiteres neue Verkehrs-Bauprojekte nicht beginnen will. Das bestätigt den Vorwurf, dass Stuttgart 21 sinnvolle Verkehrsprojekte „kannibalisiert“, und ist ein weiterer Grund, das nur zum Schein bereits begonnene Stuttgart 21 sofort zu stoppen.
Wir müssen noch mehr werden
Aber trotz allem wird der bisherige Kreis von AktivistInnen nicht ausreichen, wenn die Stuttgart-21-Mafia ernsthaft mit dem Abriss des Nordflügels beginnen will. Die große Mehrheit in Stuttgart ist gegen das Projekt. Entscheidend wird sein, dass sich ein größerer Teil dieser Mehrheit an Massenprotesten beteiligt.
Deshalb ist die „Jugendoffensive gegen Stuttgart 21“ am Dienstag durch die Königsstraße und den Schlossgarten gezogen, hat in wenigen Stunden 1000 Flugblätter v.a. an Jugendliche verteilt und mit Kreideparolen auf dem Boden und Plakaten an vom Abholzen bedrohten Parkbäumen noch einmal auf die Folgen von Stuttgart 21 aufmerksam gemacht.
Gut ist auch, dass die unabhängige Betriebszeitung Alternative im Daimler-Werk Untertürkheim in ihrer Ausgabe vom 5. August für die Demonstration am 7. August Werbung macht. Der Cannstatter Aktionskreis gegen Stuttgart 21 will am 6. August ausführlicheres Informationsmaterial vor dem Daimler-Werk verteilen. Das sind ausgezeichnete Initiativen. Was wäre erst möglich, wenn die IG Metall, die seit einigen Monaten Stuttgart 21 offiziell ablehnt, ihre Ressourcen für die Mobilisierung zu den Protesten gegen Stuttgart 21 nutzen würde? Die SAV Stuttgart hat ein neues Faltblatt zu Stuttgart 21 erstellt, in dem sie die Gewerkschaften auffordert, auch gewerkschaftliche Kampfmittel wie Streiks gegen Stuttgart 21 einzusetzen. Das würde es ermöglichen, sich wirklich zu Zehntausenden dem Abriss in den Weg zu stellen. Die Idee eines „Aufstands“ gegen Stuttgart 21, die seit Monaten in Stuttgart kursiert, würde Wirklichkeit werden. Das würde Stuttgart 21 auch für die verbohrtesten Politiker nicht durchsetzbar machen.